Daniela Prugger aus Kiew

Ich habe also die Chance, genau wie mein armer Vater an Strahlung zu sterben, dank der verdammten Russen, die heute Abend das Atomkraftwerk Saporischschja in die Luft jagen wollen", postete die 32-jährige Natalia Tsuman in der Nacht auf den 5. Juli auf Twitter. Kurz zuvor hatte unter anderem die russische Agentur Tass damit begonnen, irreführende Informationen über einen möglichen Angriff der Ukraine auf das von den russischen Truppen kontrollierte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja zu verbreiten. Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederum warnte in seiner nächtlichen Videobotschaft, Russland plane, einen Angriff auf das AKW zu simulieren.

"Wie ist dein Tag?" "Ziemlich gut, keine nukleare Katastrophe", scherzten manche in den sozialen Netzwerken am Morgen danach. Ob Desinformationskampagne, Panikmache oder tatsächliche Bedrohung – Natalia Tsuman erzählt, dass die derzeitige angespannte Lage bei vielen Erinnerungen und Ängste aus der Zeit nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl weckt. "Mein Vater war einer der Liquidatoren von Tschernobyl. Sein Team musste in der gefährlichen radioaktiven Zone arbeiten, ohne angemessenen Schutz. Danach starben in kurzer Zeit alle seine Kollegen an verschiedenen Arten von Krebs. Mein Vater starb als Letzter, vielleicht weil er der Jüngste unter ihnen war."

Das ukrainische Gesundheitsministerium veröffentlichte mittlerweile Anweisungen, was im Falle einer Explosion im AKW auf die Bewohner der potenziellen Strahlenunfallzone zukommt: eine Evakuierung. Weiter heißt es, dass die Notfalltaschen mit den wichtigsten Dokumenten, Gesichtsmasken und Kleidung zum Wechseln am besten mit Frischhaltefolie oder Klebeband umwickelt werden sollen. Das erleichtere die Dekontaminierung.

Verseuchtes Meerwasser

Es sei vor allem die mögliche Strahlung, die die Bewohner in Angst versetze, erklärt Olena Pareniuk, leitende Forscherin am Institut für Sicherheitsprobleme von Kernkraftwerken an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Das AKW selbst, das größte Europas, das vor dem Krieg ein Viertel des Landes mit Strom versorgte, sei mittlerweile vom Netz genommen. Aber: "Je nach Ausmaß eines Unfalls könnte die Gesundheit der Menschen, die in der Umgebung leben, betroffen sein, das Wasser des Dnipro verseucht werden und, da der Kachowka-Staudamm zerstört wurde, ungehindert ins Schwarze Meer gelangen."

Die Angst vor so einem Szenario herrscht seit langem. Bereits in den ersten Tagen des Krieges wurde das AKW Saporischschja von den russischen Truppen eingenommen. Es befindet sich rund 450 Kilometer Luftlinie südöstlich von Kiew auf der linken Seite des Flusses Dnipro, der die Frontlinie markiert. Die Gegend ist seither umkämpft, und die Angst vor einem GAU stehe auf der Tagesordnung, erklärt Dima Pokrowski, der bis vor einem Jahr in der Stadt Saporischschja lebte, rund 60 Kilometer vom AKW entfernt. "Bis zum Krieg war es den meisten von uns nicht bewusst, dass es dort gleich in der Nähe ein Kernkraftwerk gibt", sagt der 34-Jährige. "Nun kennt die ganze Welt Saporischschja."

Am Dienstag teilte der General der ukrainischen Streitkräfte mit, dass auf dem äußeren Dach der AKW-Blöcke Fremdkörper platziert wurden, die wie Sprengsätze aussehen. "Ihre Detonation soll die Kraftwerksblöcke nicht beschädigen, kann aber den Eindruck eines Beschusses aus der Ukraine erwecken. Das ist es, was die russischen Medien und Telegram-Kanäle als Desinformation verbreiten", heißt es in der Mitteilung. Weder das ukrainische Militär noch Selenskyj lieferten Beweise für ihre Behauptungen.

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), die sich seit mehr als einem Jahr um eine Vereinbarung über die Entmilitarisierung des AKWs bemüht, hatte Mitte Juni ihren Direktor Rafael Grossi zum Lokalaugenschein nach Saporischschja geschickt. In einem Interview mit France 24erklärte er kürzlich, dass er "diese Art von Entwicklung" nicht gesehen habe, aber auch, dass "alles passieren kann – das ist es, was mich beunruhigt".

Übung für den Ernstfall

Es sei klar, dass sich die Russen auf einen Besuch eines IAEA-Vertreters gut vorbereiten, erklärt Kernforscherin Pareniuk. "Ich würde es vorziehen, wenn in dieser Hinsicht dem ukrainischen Geheimdienst vertraut wird, denn der Krieg hat uns wiederholt gezeigt, dass die ukrainischen Behörden besser informiert sind über das, was während des Krieges im Lande vor sich geht", sagte sie dem STANDARD.

Die ukrainischen Behörden leisten ihrer Meinung nach gute Arbeit, es gibt auch laufende Übungen für den Fall eines Strahlungsaustritts. "Das Problem liegt in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit", sagt Pareniuk. "Die Experten und Sprecher der Ministerien müssten sich viel öfter in den Medien äußern und die Bevölkerung genau über den Ablauf im Ernstfall und die Lage informieren." (Daniela Prugger aus Kiew, 5.7.2023)