Joe Biden hat sein Einverständnis gegeben, dass die USA Streumunition an die Ukraine liefern werden. Das berichtet die "Washington Post" am Freitag. Bereits am Donnerstag waren Berichte aufgetaucht, wonach die  USA die Causa "aktiv besprechen" würden. Kurz darauf sickerten Informationen durch, dass die umstrittene Munition Teil eines Hilfspakets wird, das am Freitag in Washington vorgestellt werden soll.

Doch warum ist Streumunition so umstritten? Und warum beschließen die USA gerade jetzt, diese an Kiew zu liefern? Kann deren Einsatz gar zum Gamechanger in der Ukraine werden? Der STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen dazu.

Streubomben Ukraine
Diese Streubombe hat in der Region Charkiw vergangenen Sommer eingeschlagen. Sie ist leer. Oft bleiben in dem Behälter aber Reste übrig. Andere Teile detonieren nicht in der Luft und verbleiben jahrelang auf dem Boden.
REUTERS/IVAN ALVARADO

Frage: Was ist Streumunition?

Antwort: Im Gegensatz zu herkömmlichen Bomben, die einzeln abgeworfen und etwa beim Einschlag zur Explosion gebracht werden, handelt es sich bei Streu- oder Cluster-Munition um bombenförmige Behälter, die nicht selbst explodieren, sondern noch in der Luft sogenannte Submunition verteilen beziehungsweise verstreuen. Diese kleineren "Bomben in der Bombe" explodieren dann nahezu gleichzeitig oder zeitlich verzögert in einem größeren Umkreis. 

Streumunition kann je nach Bauart als Bombe aus Flugzeugen abgeworfen (Streubombe) oder auch als Artilleriegeschoss (Cargomunition) abgeschossen werden, auch ein Bombardement mittels ferngesteuertem Marschflugkörper ist möglich. Die kleineren "Bomblets" innerhalb der Bombe können je nach Bauart verschiedene Zwecke erfüllen, es gibt Munition mit panzerbrechender Wirkung ebenso wie solche, die Brände auslösen, Explosionsschäden verursachen oder durch weiträumige Splitterwirkung Zerstörung anrichten. 

Auf einem Friedhof in Charkiw schlugen ein Monat nach Kriegsbeginn die Überreste einer entleerten Streubombe ein.
EPA

Frage: Seit wann wird sie eingesetzt?

Antwort: Wer glaubt, dass es sich bei dieser Waffengattung um eine neue oder neuere Erfindung handelt, irrt: Schon Ende des 17. Jahrhunderts gab es eine Urform solcher Munition. Zum Einsatz im großen Stil kam es dann im Zweiten Weltkrieg. Vor allem die Deutsche Wehrmacht setzte solche Bomben ein, deren Submunition teilweise mit Zeitzündern versehen war und daher erst mit zeitlicher Verzögerung detonierte – mit dem Zweck noch größeren Schaden anzurichten. Auch die UdSSR, Großbritannien und die USA setzten solche Bomben ein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trieben vor allem die USA und die Sowjetunion die Entwicklung dieser Waffengattung weiter, zum Einsatz kamen sie seitdem unter anderem in Korea, in Vietnam, in Afghanistan, im Libanon, im Kosovo, in Syrien und im Jemen – und seit geraumer Zeit auch in der Ukraine.

Vorrangig wird Streumunition dort eingesetzt, wo "weiche" Ziele – also Fahrzeuge, Infanterie, Luftabwehr- und Artillerie-Stellungen – oder Infrastruktur wie Straßenzüge und Landebahnen für Flugzeuge zerstört werden sollen. Durch die breite Streuung droht jedoch auch Gefahr für die eigene Armee. 22 US-Amerikaner wurden im Zweiten Golfkrieg 1991 allein durch sogenanntes "friendly fire" getötet.

Frage: Warum ist diese Waffe so umstritten?

Antwort: Die Waffenart gilt deshalb als so gefährlich, weil Bombardements, die damit durchgeführt werden, sehr großflächige Gebiete betreffen. Außerdem geht große Gefahr von ihnen aus, weil typischerweise nicht alle Bomblets in der Luft detonieren. Je nach Charge explodieren laut NGOs bis zu 40 Prozent des Inhalts eines Gefechtskopf nicht und bleiben so auf dem Boden, wo sie als Blindgänger vor allem auch Zivilisten und Zivilistinnen noch Jahre nach einem etwaigen Kriegsende gefährden. Ähnlich wie bei Landminen bleiben sie eine Gefahr und können nur in mühsamer und kostspieliger Kleinstarbeit aufgespürt und entschärft werden. Bei den von der Ukraine gewünschten Gefechtsköpfen (siehe unten) sollen es laut US-Experten 2,5 bis 5 Prozent sein, die nicht explodieren. Neuere Chargen sollen gar nur mehr 1,2 Prozent Nichtexplosionsrate haben.

Frage: Wie ist der Umgang mit solchen Waffen international geregelt?

Antwort: Eben weil beim Einsatz der Waffe auch zivile Opfer in Kauf genommen werden, wird Streumunition von mehr als 120 Staaten geächtet. 123 Staaten haben sich mittlerweile unter der Oslo-Konvention aus dem Jahr 2008, die 2010 in Kraft trat, dazu verpflichtet, keine Streumunition zu nutzen, produzieren, weiterzugeben oder auch nur zu lagern. Auch Österreich hat diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert. Ebenso 25 von 31 Nato-Mitgliedsstaaten.

Allerdings zählen die großen Militärmächte wie die USA, China, Russland oder auch Israel nicht zu jenen Parteien, die sich zum freiwilligen Verzicht verpflichtet haben. So setzt Russland aktuell die Munition in der Ukraine ein – und das schon seit Beginn der großflächigen Invasion. Es muss dabei betont werden, dass Russland die Streumunition weitaus häufiger und großflächiger einsetzt als die Ukraine.

Aber auch die Ukraine ist der Konvention nicht beigetreten. Wie die NGO Human Rights Watch und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) berichteten, soll Kiew zwischen Juli 2014 und Februar 2015 auch Streubomben in den von Russland illegal besetzten, prorussischen Separatistengebieten im Osten des Landes eingesetzt haben. Auch seit dem russischen Angriff hat die Ukraine laut HRW Streubomben eingesetzt – etwa bei der Befreiung Isjums, wo mindestens acht Zivilisten durch den Einsatz verstorben sein sollen.

Frage: Ist der Einsatz von Streubomben also illegal?

Antwort: Diese Frage ist umstritten und hat mit der Auslegung der völkerrechtlichen Bestimmungen zu tun. Die OSZE erklärte zum Beispiel 2022 in einem Bericht, dass für Parteien, die die Konvention gegen Streumunition nicht unterzeichnet haben (wie eben Russland, die Ukraine oder die USA) die Anwendung nicht also solche verboten ist. "Andere argumentieren allerdings", heißt es in dem Bericht weiter, "dass sie aufgrund ihrer historisch erwiesenen wahllosen Wirkung, unter anderem durch nicht explodierte Bomblets, die als explosive Überreste des Krieges später Zivilisten töten, nach den allgemeinen Regeln verboten sind." Denn im Völkerrecht sind viele Grundrechte verankert, für die es keine expliziten Verträge braucht. 

Viele NGOs vertreten diese Ansicht. So kritisiert auch die Ex-Chefin der mit dem Friedensnobelpreis prämierten NGO Ican (Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen) Beatrice Fihn die mögliche US-amerikanische Lieferung auf Twitter scharf.

Frage: Was genau wollen die USA an Kiew liefern?

Antwort: In welchem Umfang die USA Streumunition an die Ukraine liefern werden, ist noch nicht bekannt. Am Donnerstagabend machten Berichte der "New York Times" und auch "Politico" die Runde, wonach eine dementsprechende Ankündigung schon am Freitag stattfindet. Sie sollen Teil eines neuen militärischen Hilfspaket sein, das – so die Medienberichte – rund 800 Millionen US-Dollar schwer sei. Laut "Washington Post" hat US-Präsident Joe Biden am Freitag sein Einverständnis gegeben, dass das Hilfspaket auch Streumunition enthalten wird.

Frage: Kann der Einsatz von Streumunition zum Gamechanger in der Ukraine werden?

Antwort: Streubomben könnten der Ukraine nach Ansicht mancher Militärfachleute bei ihrer Gegenoffensive gegen russische Truppen helfen, die sich unter anderem in Schützengräben verschanzt haben. Alleine von der Ankündigung bis zur Lieferung und letztlich bis zum tatsächlichen Einsatz vergeht jedoch einiges an Zeit. Klar ist aber auch, dass der Einsatz von Streumunition alleine nicht die meist drei Verteidigungslinien der russischen Armee zerstören können.

Doch die von der Ukraine gewünschte konventionelle Mehrzweckmunition, ein Art Artillerie- oder Boden-Boden-Raketensprengkopf (DPICMs), der Streumunition enthält, könnte auch mit Haubitzen und Himarsraketenwerfern abgefeuert werden. Ein britischer General hat 2019 einmal gesagt, dass die DPCIMs in Kriegen immer wieder die Rettung waren, weil sie die feindlichen Formationen aufbrechen konnten und diesbezüglich immer wieder ein Gamechanger waren. Im konkreten Fall der Ukraine, könnte es den angreifenden Truppen etwa mehr Zeit geben sich durch die großflächigen Minenfelder zu manövrieren.

Ben Hodges, Ex-Kommandant der US-Streitkräfte in Europa sagte dem "Economist" zudem, dass die schnelle Einsatzbereitschaft der Munition insofern ein Vorteil sei, weil man natürlich weniger genau zielen müsse und weniger Informationen über das Zielobjekt sammeln müsse. Und ganz prinzipiell könnte die Lieferung von Streumunition freilich den offensichtlichen Mangel, beziehungsweise die sich stetig leerenden Artillieriemunitionsdepots zumindest ein Stück weit ausgleichen.

Frage: Wie könnte sich der Einsatz auf die westliche Unterstützung der Ukraine auswirken?

Antwort: Jede Antwort auf diese Frage ist natürlich rein spekulativ und von etlichen Faktoren, etwa dem gewählten Einsatzort, den übermittelten Bildern und den eingetretenen Todesfällen sowie einer brutalen Kosten-Nutzen-Rechnung, abhängig. Ein etwaiges Tabu über den Einsatz der Munition wurde von beiden Kriegsparteien bereits gebrochen. Die Unterstützung für die Ukraine hielt dennoch breit und langfristig an. Die Ukraine hat die USA auch mehrmals um die Lieferung gebeten und sie ist gewillt, diese auf ihrem eigenen Territorium einzusetzen. Und zumeist hieß es von den westlichen Partnern bisher, dass man "was auch immer es brauche" zur Verfügung stellen wolle.

Wenn die ukrainische Regierung, die nach wie vor riesige Unterstützung in der Bevölkerung genießt, also Streumunition einsetzten möchte und die Unterstützer aus den USA bereit sind, diese zu liefern, stellt sich die Frage, ob dies die europäische Unterstützung tatsächlich untergräbt oder ob man den Sachverhalt mit Bauchschmerzen akzeptieren muss. Immerhin säumten ohnedies schon so viele Minen und nicht explodierte Kampfstoffe die ukrainischen Böden, dass sowieso – mit oder ohne Streumunition – jahrzehntelange Kampfmittelbeseitigung und Entminung notwendig seien, argumentieren einige Experten. Es ist aber natürlich auch richtig, dass jede weitere Bomblet für weitere mögliche Kontamination sorgen kann. Im Krieg ist aber wohl nicht jedes Dilemma aufzulösen. (Anna Sawerthal, Fabian Sommavilla, Gianluca Wallisch, 7.7.2023)