Den Haag – Niederlandes Premier Mark Rutte hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Die Unterschiede bei den vier Koalitionsparteien bei der Asyl- und Migrationspolitik seien unüberbrückbar, so der konservativ-liberale Premier am Freitag in Den Haag. In der Nacht bestätigte die Regierung, dass Rutte seinen Rücktritt bei König Willem-Alexander eingereicht habe und ihn am Samstag treffen werde. Laut niederländischer Wahlbehörde können frühestens Mitte November Neuwahlen stattfinden.

Rutte kündigte an, er wolle bis dahin geschäftsführend im Amt bleiben und sich weiter um die anstehenden Aufgaben kümmern, darunter die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Er habe auch weiterhin die "Energie", um bei Neuwahlen als Spitzenkandidat seiner Mitte-Rechts-Partei VVD zu kandidieren, müsse darüber aber zunächst "nachdenken".

Wohnbauminister Hugo De Jonge auf dem Weg ins Ministerium, 7. Juli
Wohnbauminister Hugo De Jonge auf dem Weg ins Ministerium, 7. Juli
EPA/ROBIN UTRECHT

Streit um Asylpolitik

Medienberichten zufolge waren die Spannungen innerhalb der Regierungskoalition eskaliert, nachdem Ruttes VVD strengere Regeln für Asylbewerber vorgeschlagen und gedroht hatte, das Kabinett zu verlassen, wenn diese Maßnahmen nicht verabschiedet würden. Unter anderem hatte Rutte demnach gefordert, die Familienzusammenführung von Flüchtlingen zu erschweren. Tagelange Krisengespräche zwischen den Koalitionspartnern hätten zu keiner Einigung geführt, sagte Rutte Freitagabend.

Die christdemokratische Partei Christen Unie hatte erklärt, sie könne "mit Ruttes Vorschlag nicht leben". Christen-Unie-Politikerin und Vize-Regierungschefin Carola Schouten sagte, es sei ein "zentraler Wert" für ihre Partei, dass "Kinder mit ihren Eltern aufwachsen".

Auch die Mitte-Links-Partei D66 von Finanzministerin Sigrid Kaag lehnte die Forderung Ruttes Berichten zufolge nach dreitägigen Krisengesprächen ab. Kaag bezeichnete den Sturz der Regierung als "bedauerlich" und die Spannungen innerhalb der Koalition als "unnötig".

Außenminister Wopke Hoekstra vom vierten Koalitionspartner, der christdemokratischen CDA, nannte das Auseinanderbrechen der Koalition "sehr enttäuschend" und "dem Volk gegenüber unerklärlich".

Skandal in überfülltem Asylzentrum

Die niederländische Regierung stritt seit ihrem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren über das Thema. Im vergangenen Jahr kam es zu einem Skandal, als in einem überfüllten Asylzentrum ein Baby starb und hunderte Menschen im Freien schlafen mussten. Ruttes vorherige Regierung war 2021 nach einer Affäre um Kindergeldzuschläge zurückgetreten.

Der nun anstehende Wahlkampf dürfte hitzig geführt werden. Die erst vor vier Jahren gegründete und infolge der Proteste gegen die von der EU unterstützen Klimaschutzpläne erstarkte Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) will nach einem deutlichen Wahlerfolg bei den Provinzwahlen im März auch bei den nationalen Parlamentswahlen hinzugewinnen. Der Druck durch die BBB dürfte niederländischen Medien auch zum Sturz der Regierung beigetragen haben: Demnach wollte Rutte Härte in der Asylpolitik zeigen, um sich gegenüber dem rechten Flügel seiner Partei VVD zu profilieren - da die BBB inzwischen auch um enttäuschte VVD-Wähler wirbt.

Wie andere europäische Länder auch ringen die Niederlande mit der Frage, wie sie mit der Vielzahl an Einwanderern umgehen sollen. Früheren Medienberichten zufolge zeigte sich Rutte bereit, die Regierung notfalls scheitern zu lassen. Die Asylanträge in den Niederlanden stiegen im vergangenen Jahr um ein Drittel auf über 46.000 und sollen in diesem Jahr auf mehr als 70.000 ansteigen - ein neuer Höchststand seit 2015.

Ruttes viertes Kabinett

Mark Rutte (56) ist seit knapp 13 Jahren Ministerpräsident der Niederlande und damit einer der am längsten amtierenden Regierungschefs der EU. Seit Jänner 2022 führte er sein viertes Kabinett nach Koalitionsverhandlungen, die gut neun Monate gedauert hatten und damit die längsten in der Geschichte des Landes waren.

Nach zahlreichen Krisen waren die Umfragewerte der Koalition stark gesunken. Bei der jüngsten Provinzialwahl im März, bei der auch die Erste Kammer des Parlaments - vergleichbar dem Bundesrat - gewählt wurde, hatten alle Regierungsparteien deutliche Verluste verbucht. Großer Wahlsieger wurde die rechtspopulistische Bauerbürgerbewegung BBB, die auf Anhieb stärkste Kraft wurde. In der Zweiten Kammer ist die BBB nur mit einer Abgeordneten vertreten. Bei einer Neuwahl wird der Partei großer Erfolg vorhergesagt. (APA, 8.7.2023)