"Leider müssen wir den Schluss ziehen, dass die Unterschiede unüberbrückbar sind" – mit diesen Worten erklärte Langzeitpremier Mark Rutte am Freitag die regierende Koalition in den Niederlanden für beendet. Das Thema Asyl war der Streitpunkt, der schlussendlich den Ausschlag gab. Uneinigkeit hatte sich aber schon lange in der Vierparteienkoalition gezeigt, etwa auch bei den Themen Klimapolitik oder Wohnungsnot.

Der niederländische Premier Mark Rutte, nachdem er am Samstag König Willem-Alexander über das Scheitern der Regierung informiert hat. Wie es für ihn politisch weitergeht, ist vorerst unklar.
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Der Plan von Rutte und seiner rechtsliberalen Partei VVD sah eine Verschärfung der Asylpolitik vor. Flüchtlinge, die schon in den Niederlanden sind, sollten frühestens nach zwei Jahren die Möglichkeit bekommen, ihre Angehörigen nachzuholen. Außerdem sollte die Gesamtzahl auf maximal 200 pro Monat limitiert werden. Das Vorhaben sorgte vor allem bei der Christenunion für Unmut: Es sei inakzeptabel, dass Flüchtlinge nicht einmal ihre Kinder nachholen könnten.

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Protestpartei im Aufwind

Neuwahlen sollen nun frühestens im November stattfinden. Besonders gut könnte dabei die rechtspopulistische Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) abschneiden, die erst vor vier Jahren im Zuge der Proteste gegen die von der EU unterstützten Klimaschutzpläne gegründet wurde. Im März gewann sie die meisten Sitze bei den Provinzwahlen. Die Proteste richteten sich gegen die Pläne der Regierung, Viehbestände zu reduzieren, um Umweltschäden und Treibhausgasemissionen zu begrenzen. Viele Bauern fühlten sich dadurch angegriffen und bedroht, blockierten mit Traktoren immer wieder Autobahnen und Landstraßen, zogen zornig nach Den Haag. Jubel und Unterstützung erhielten sie dabei von führenden internationalen Rechten wie Ex-US-Präsident Donald Trump und Frankreichs Rechts-außen-Politikerin Marine Le Pen.

Neben der BBB bleibt auch der rechtsextreme Abgeordnete Geert Wilders mit seiner islamfeindlichen PVV eine starke politische Kraft in den Niederlanden. Umfragen zufolge kommt sie derzeit auf den dritten Platz, nach BBB und VVD.

Rutte könnte es Beobachtern zufolge gezielt auf den Koalitionsbruch in der Migrationspolitik angelegt haben, um dann bei Neuwahlen mit einem schärferen Profil anzutreten. Als einer, der dafür sorgt, dass weniger Flüchtlinge ins Land gelassen werden – und dafür, dass die rechten Wählerinnen und Wähler zu seiner VVD zurückkehren.

Eine politische Strategie, die man nicht nur in den Niederlanden beobachten kann – die aber nicht immer aufgeht. Damit kommen allerdings immer radikalere Ansichten in den Mainstream, und rechtsextreme Parteien werden normalisiert, befürchten Kritiker.

Reduktion statt Investition

Rutte setzt dennoch gezielt auf vermeintliche Bedrohungsszenarien durch Flüchtlinge: Obwohl bis Mai etwa 15.000 Asylanträge gezählt wurden, prognostizierte seine Regierung 70.000 für dieses Jahr. Das wären deutlich mehr als die rund 46.000 im Jahr 2022, und schon damals waren die Unterkünfte überfüllt. Schutzsuchende waren monatelang gezwungen, im Freien zu schlafen, mit wenig oder gar keinem Zugang zu Trinkwasser, sanitären Einrichtungen oder Gesundheitsversorgung. Ein drei Monate altes Baby starb im August 2022 in einem der Aufnahmezentren.

Rutte versprach, der "beschämenden Situation" ein Ende zu setzen – schlug aber nicht etwa höhere Investitionen in Unterbringung und Versorgung vor, sondern wollte die Zahl der Ankommenden reduzieren. Mit Methoden, bei denen sich seine Koalitionspartner nun weigerten, mitzugehen.

Die kommende Neuwahl wird die zweite Parlamentswahl in den Niederlanden innerhalb von zwei Jahren sein. Auf den jüngsten Urnengang im April 2021 folgten 271-tägige Koalitionsverhandlungen, eine Rekorddauer. Sie führten schließlich im Jänner 2022 zur aktuellen Regierungskoalition, der vierten unter Premier Rutte seit 2010. Sie hielt eineinhalb Jahre. Ob der Langzeitpremier auch der nächsten Regierung vorstehen wird, ist ungewiss. Die Protestpartei BBB, derzeit führend in den Umfragen, hat eine Koalition mit der VVD unter Rutte ausgeschlossen– mit einem anderen Vorsitzenden allerdings nicht. (Noura Maan, 9.7.2023)