Thomas Mayer aus Vilnius

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Litauens Präsident Gitanas Nausėda vor einer blauen Wand mit dem Nato-Logo und dem Logo des Gipfels in Vilnius.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (links) und Litauens Präsident Gitanas Nausėda sind die Gastgeber.
AFP/PETRAS MALUKAS

Beim alten Rathaus von Vilnius ist es Montagmittag sehr ruhig. Nur ein paar Touristen flanieren durch die engen Gassen in der Altstadt. Da und dort ein Sicherheitsmann. Nichts deutet darauf hin, dass Teile der litauischen Hauptstadt mit dem Dienstag offiziell beginnenden zweitägigen Nato-Gipfel in eine Festung verwandelt werden. Ganze Straßenzüge in der Neustadt rund um das Parlament werden gesperrt.

Zehntausend Polizisten und Soldaten sorgen für die Sicherheit von mindestens fünftausend Delegierten aus rund 50 Staaten (davon 31 Mitglieder der transatlantischen Allianz), Vertretern von NGOs und Journalisten aus aller Welt. Der Krieg und die Weltpolitik machen für ein paar Stunden Station.

Vor dem Eingang zum Rathaus in der friedlichen Altstadt gibt es einen kleinen Hinweis, warum das Treffen für das Gastgeberland eine besondere Bedeutung hat, warum der Sicherheitsaufwand so enorm ist: US-Präsident Joe Biden würde für 48 Stunden in der Stadt sein. Wo er ist, gilt höchste Sicherheitsstufe. Die Stadtverwaltung hat Fähnchen anbringen lassen, um ihre Gäste zu begrüßen. Die US-Flagge bekam dabei den Ehrenplatz, neben der von Litauen. Davon leicht abgesetzt: Nato, EU und Fahnen anderer Partner.

Video: Der Durchbruch kam in buchstäblich letzter Minute vor dem Nato-Gipfel: Nach monatelangem Widerstand macht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Weg für den schwedischen Nato-Beitritt frei
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Historisches Treffen

Solche kleinen Gesten sind nicht nur in Litauen, sondern im ganzen Baltikum, in Lettland, in Estland und im nahen Polen seit Beginn des russischen Eroberungskrieges gegen die Ukraine von noch größerer Bedeutung. Die USA werden wegen ihrer militärischen Stärke als die eigentlichen Garanten der eigenen Sicherheit gesehen. Von Vilnius sind es nur 30 Kilometer zur Grenze mit Belarus. Man befürchtet, dass Russland und sein "Satellit" in Minsk diese Grenze überschreiten könnte.

160 Kilometer weiter westlich liegt die russische Enklave Kaliningrad, ein einziger Militärstützpunkt. Die Auswahl von Litauen als Gastgeberland dieses Nato-Gipfeltreffens, das von nicht wenigen Diplomaten schon im Vorfeld als historisch eingeordnet wurde, war daher natürlich kein Zufall. Die Menschen und die Regierungen dieses Raumes fühlen sich der Ukraine besonders verbunden, aufgrund ihrer Geschichte in der ehemaligen Sowjetunion, von deren Diktatur sie sich Ende der 1980er-Jahre durch die "singende Revolution" befreiten. Erst vor nicht ganz zwanzig Jahren wurden sie Mitglied in EU und Nato.

Inhaltlich dürfte der Nato-Gipfel von drei großen Themenblöcken dominiert werden, in allem überragt vom Krieg in der Ukraine: Erstens wird das Bündnis einen deutlichen Ausbau der Verteidigungsfähigkeit an der "Ostflanke" gegen Russland und Belarus beschließen, auch die Überarbeitung der nuklearen Abschreckung, wie das bereits vor einem Jahr beim Nato-Gipfel in Madrid auf Schienen gesetzt wurde.

Zweitens sollte es beim Drängen Schwedens auf einen Nato-Beitritt einen Durchbruch geben. Finnland hat den Eintritt in die Allianz bereits im April abgeschlossen. 29 von 31 Nato-Staaten haben den schwedischen Beitritt auch schon ratifiziert. Aber die Türkei und Ungarn lehnten den Vollzug mit immer neuen Begründungen ab.

Doch kurz vor Beginn des Gipfels sollen Erdogan und der schwedische Regierungschef Ulf Kristersson bei einem Treffen eine Reihe von Schritten vereinbart haben, auf deren Grundlage Erdogan dem türkischen Parlament das Beitrittsprotokoll zur Entscheidung vorlegen werde, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montagabend in der litauischen Hauptstadt Vilnius.

Drittens, neben der Aufrüstung der Ostflanke wird auch das weitere Vorgehen der Bündnispartner mit der Ukraine im Zentrum aller Beratungen stehen, offiziell und am Rande. Präsident Wolodymyr Selenskyj drängt auf einen raschen Nato-Beitritt, vor allem aber auf einen Ausbau militärischer Hilfe durch Nato- und EU-Staaten. Er wird erstmals persönlich an einem Nato-Gipfel teilnehmen.

Kein Beitritt vor Ende des Krieges

Den Wunsch nach einem konkreten Aufnahmeprozess oder gar Termin wird ihm der Gipfel jedoch nicht erfüllen. Die Allianz bzw. ihre Mitglieder sind sich in dieser Frage einerseits uneinig. Andererseits hat nicht zuletzt Biden deutlich gemacht, dass ein Land, das im Kriegszustand ist, nicht aufgenommen werden kann, weil dies bedeuten würde, dass die Bündnispartner automatisch in einen Krieg verwickelt werden. Genau das will man seit Februar 2022 verhindern. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Nato die Perspektive einer Mitgliedschaft für die Ukraine erneuert und zusätzlich eine Art Sicherheitsgarantie ausspricht. Wie das konkret formuliert wird, etwa nach dem Vorbild der USA in Bezug auf Israel, ist offen.

Sicher ist, dass die Nato ihre schnelle Eingreiftruppe von 40.000 auf 300.000 Soldatinnen und Soldaten erhöhen wird, um im Falle russischer Übergriffe bereit zur Verteidigung zu sein. In acht Staaten an der Ostgrenze, von Estland im Norden bis Bulgarien im Süden, wird die Präsenz von Truppen ausgebaut, von rund 1000 pro Land auf bis zu 5000. Deutschland etwa schickt 4000 Männer und Frauen nach Litauen, führt das Nato-Kontingent an.

Neue Abstimmung wird es mit eingeladenen "wichtigen strategischen Partnern aus dem indopazifischen Raum" geben, wie Japan oder Südkorea. Österreich wurde von Litauen nicht zum Nato-Gipfel eingeladen, obwohl es Teil der "Partnerschaft für den Frieden" ist, wie das Außenministerium dem STANDARD bestätigte. (Thomas Mayer, 11.7.2023)

Grafik: Nato-Mitglieder und Bewerber