Thomas Mayer aus Vilnius

Recep Tayyip Erdoğan ist immer für Überraschungen gut. Bevor der türkische Präsident Montagnachmittag zum Nato-Gipfel nach Vilnius flog, hatte er für den Beitritt Schwedens eine neue Bedingung aufgestellt: Würde die EU die Beitrittsverhandlungen mit seinem Land wiederaufnehmen, könnte er im Gegenzug das Veto gegen den schwedischen Eintritt ins Militärbündnis opfern.

Kaum in der Hauptstadt von Litauen angekommen, traf Erdoğan mit dem schwedischen Premierminister Ulf Kristersson zu einem Gespräch zusammen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein Norweger, diente als Vermittler. Es dauerte dann nicht lange, bis man sich auf einen Kompromiss geeinigt hatte.

Konstruktiver Weg mit Türkei

Es traf sich gut, dass auch der Ständige Ratspräsident Charles Michel bereits in Vilnius anwesend war. Auch er besprach sich mit Erdoğan persönlich in einem Vier-Augen-Gespräch. Es wurde zugesichert, dass die EU wieder einen konstruktiven Weg mit der Türkei finden wolle, nachdem die EU-Beitrittsverhandlungen nach der autoritären Wende in Ankara 2016 eingefroren worden waren. Was konkret das heißt, ist unklar.

Video: Der Durchbruch kam in buchstäblich letzter Minute vor dem Nato-Gipfel: Nach monatelangem Widerstand macht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Weg für den schwedischen Nato-Beitritt frei
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Schweden verpflichtet sich, die Sorgen in Ankara wegen der Tätigkeit der kurdischen PKK im Land zu zerstreuen. Es soll verboten werden, öffentlich den Koran zu verbrennen und damit Unruhe zu stiften. Die Türkei sagt Ja zu Nato-Schweden. Der Präsident will dafür sorgen, dass das Parlament den im Nato-Rat bereits vereinbarten Beitritt zur Allianz umgehend ratifiziert. Dann fehlt nur noch die Ratifizierung in Ungarn – wie so oft betreibt auch Premier Viktor Orbán Obstruktion. Das wird sehr rasch erfolgen, wie Diplomaten erwarten.

Dann wird die Nordatlantische Allianz auf insgesamt 32 Mitgliedsländer angewachsen sein. Finnland war bereits im April Nato-Mitglied geworden. Beide Länder hatten sich erst vor einem Jahr nach dem Angriff der russischen Armee gegen die Ukraine Ende Februar 2022 zur Aufgabe der Neutralität entschlossen.

Lange Nato-Grenze mit Russland

Damit hat der Gipfel von Vilnius auf der höchsten Ebene der Staats- und Regierungschefs, der Dienstagmittag mit US-Präsident Joe Biden offiziell starten sollte, bereits im Vorfeld ein erstes wichtiges Ergebnis erzielt. Und die Staats- und Regierungschefs können sich dem Hauptthema zuwenden: dem Krieg in der Ukraine und wie das Bündnis mit dem Land in Zukunft umgehen will; wie es mit militärischer Unterstützung weitergeht; und wie die Nato durch starken Ausbau ihrer Präsenz an der Ostflanke in Osteuropa der Bedrohung durch Russland begegnen will.

Wenn nun Schweden und Finnland, die beide über hochprofessionelle Armeen verfügen, mit an Bord sind, verändert sich auch die strategische Lage der Nato in diesem Raum. Sie hat mit Finnland nun eine zusätzliche 1.340 Kilometer lange direkte Grenze zu Russland. Die gesamte Ostseeküste steht unter dem Schutz der wechselseitigen Beistandsverpflichtung – nur die kleine russische Enklave Kaliningrad, die ein starker Militärstützpunkt ist, ist davon ausgenommen. Die drei baltischen Staaten und Polen grenzen an den engen Verbündeten Moskaus, an Belarus. Es bleiben also nur noch die Ukraine und die Republik Moldau als "Pufferzone" in der Schwarzmeerregion.

Stärkere Präsenz an Ostflanke

Wie berichtet, wird die Nato die ständige Präsenz an den Ostgrenzen deutlich erhöhen. Bisher waren nur multilaterale Bataillone aus gut einem Dutzend Nato-Staaten präsent, die alle paar Monate ausgewechselt wurden, rund 1.000 Soldatinnen und Soldaten in jedem Land, von Estland bis Rumänien. In den kommenden Jahren wird das auf Brigadestärke ausgebaut, 4.000 bis 5.000 Soldatinnen und Soldaten pro Land. In Litauen zum Beispiel hat Deutschland die Führung, will dort permanent 4.000 Truppen stationieren. Kanada schickt 1.200 Leute nach Lettland. Beim Gipfel werden alle Mitgliedsstaaten einmelden, wie sie sich an der Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit beteiligen wollen.

Die Vollendung der Norderweiterung hat eine historische Dimension. Die Nato wurde 1949 gegründet, nachdem der Versuch Großbritanniens und Frankreichs, eine eigene europäische Militärunion zu schaffen, gescheitert war. Diese sollte aus fünf Staaten bestehen, gemeinsam mit den drei Beneluxländern, und war eigentlich aus Angst vor einem wiedererstarkenden Deutschlands entstanden. Aber die Franzosen sagten in einem Referendum Nein.

Noch vor dem offiziellen Gipfelbeginn kam die Einigung
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Nach dem kommunistischen Putsch in der Tschechoslowakei, der Ausrufung der kommunistischen Volksrepublik Polen wendete sich das Blatt. Die USA und Europa sahen nun die auf Expansion drängende Sowjetunion unter Josef Stalin als Hauptgegner. Die Nato entstand, der Kalte Krieg begann.

US-Präsident Harry Truman kündete nach der Wirtschaftshilfe für das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Europa das weitere militärische Engagement der USA an: 1949 wurde die Nordatlantische Allianz mit dem Vertrag von Washington gegründet. Ihr gehörten in Europa neben Frankreich, Großbritannien, Italien und den Beneluxländern auch Norwegen, Dänemark und Island an. Deutschland wurde erst 1955 Nato-Mitglied, dem Jahr, in dem Österreich im Oktober seine Neutralität erklärte, nachdem die vier Alliierten im Frühjahr den Staatsvertrag und ihren Abzug besiegelt hatten. (Thomas Mayer aus Vilnius, 11.7.2023)