Thomas Mayer aus Vilnius

Ein Blick in den Sitzungssaal des Nato-Gipfels in Vilnius.
Warten auf Wolodymyr Selenskyj, den Gast, um den sich alles dreht.
EPA/FILIP SINGER

Kommt er? Oder kommt er doch nicht? Und wenn er kommt, wann genau wird er in der litauischen Hauptstadt eintreffen? Das war am Dienstag beim Auftakt des Nato-Gipfels in Vilnius die meistgestellte Frage unter Diplomatinnen und Beobachtern.

Gemeint war aber nicht wie üblich der US-Präsident, der bei Treffen der Allianz wegen der globalen Bedeutung der Supermacht USA in der Regel die zentrale Person ist. Jede seiner Bewegungen wird vermerkt. Joe Biden war nach einem Kurzbesuch in London bei den engsten, "felsenfesten" britischen Bündnispartnern bereits Montagabend angereist.

Das Objekt aller Neugier war diesmal beim insgesamt 36. Treffen auf höchster politischer Ebene (virtuelle Besprechungen der Staats- und Regierungschefs wie zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eingerechnet) Wolodymyr Selenskyj. Weil der ukrainische Präsident eine der meistgefährdeten Personen der Welt ist, gibt es zu seinem Aufenthalt nie gesicherte Informationen. Nun kam noch dazu, dass er selbst öffentlich versuchte, sein Kommen von der Erwartung einer Einladung zum Nato-Beitritt der Ukraine abhängig zu machen.

Kiew baut Druck auf. Seit Monaten drängte Selenskyj vehement darauf, dass das Bündnis einen Zeitplan zur Umsetzung anbieten solle. Die Regierung sieht in einer Nato-Mitgliedschaft die einzige echte Sicherheitsgarantie – neben Forderungen nach einem Ausbau der Militärhilfe, um die russischen Angreifer aus dem Land zu drängen.

Verwirrspiele

Am Nachmittag machte Selenskyj dem Verwirrspiel ein Ende. Via Twitter gab er bekannt, dass er nach Vilnius reise. Wenig später wurde bestätigt, dass er bereits gelandet sei. Am Abend hielt er bei einer Solidaritätsveranstaltung in der Stadt vor tausenden Menschen eine Ansprache.

Seine Anwesenheit in Vilnius war für ihn selbst wie für die Bündnispartner von großer Bedeutung. So wird symbolisch ausgedrückt, dass das Land zum demokratischen Westen "dazugehört".

Aber angeführt von den USA und Deutschland lehnten es einige Staaten ab, den Nato-Beitritt konkret in Aussicht zu stellen, weil dies für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Anlass wäre, den Krieg fortzusetzen. Biden stellte klar, dass "ein Land im Krieg" der Allianz nicht beitreten könne, weil dies den Bündnisfall auslösen würde. Viele osteuropäische Staaten wollen die Ukraine besser heute als morgen aufnehmen.

Bei der Sitzung des Nordatlantikrates der 31 Mitgliedsstaaten ging es darum, mit welchen Formulierungen in der Erklärung von Vilnius die Ukraine-Frage vom Eis geholt werden könnte. Darin wird die "Perspektive" des Beitritts bekräftigt, wie schon 2008 in Bukarest, aber ohne Datum, "in Zukunft".

Aber: Die Nato will auf die Erfüllung eines "Membership Action Plans" verzichten, ein komplexes Verfahren wie normal üblich. Stattdessen werde es ein "einstufiges Verfahren" geben. Sobald die Ukraine die Bedingungen nach Ansicht des Nato-Rates erfülle, werde es eine Beitrittseinladung geben, erklärte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Abend.

Er sieht die Ukraine bereits auf gutem Weg zu Nato-Standards. Es brauche Reformen im Sicherheitssektor und bei der Demokratie. Die Mitgliedsstaaten werden das Land bilateral verstärkt militärisch unterstützen, an die Nato heranführen. Stoltenberg sagte, die Nato sei so weit gegangen wie bei keinem Land zuvor. Die USA überlegen, der Ukraine eine Sicherheitsgarantie zu geben.

Zu Beginn des Gipfels hatte Stoltenberg ausdrücklich den finnischen Präsidenten Sauli Niinistö bei dessen erstem Gipfel als Nato-Mitglied begrüßt. Er kündigte an, dass Schweden "sehr bald" folgen werde: Premierminister Ulf Kristersson saß als Gast bereits am Tisch.

Dinner mit einem Wütenden

Selenskyj zeigte sich noch vor und beim Abendessen mit den Staats- und Regierungschefs unzufrieden. Es sehe so aus, als gebe es "keine Bereitschaft, die Ukraine in die Nato einzuladen oder sie zum Mitglied der Allianz zu machen". Das sei Gelegenheit für Moskau, "den Terror weiter fortzusetzen". Den Nato-Partnern hielt er "Unschlüssigkeit und Schwäche" vor, das sei "absurd".

Am Mittwoch wird Selenskyj an der Nato-Ratssitzung teilnehmen. Dabei wird ein Nato-Ukraine-Rat eingerichtet, eine Sonderstellung für das Land, als Zeichen der Nähe – so wie es 1997 Russland bekommen hat. Der Nato-Russland-Rat liegt seit der Ausweitung des Krieges auf die ganze Ukraine auf Eis. (Thomas Mayer aus Vilnius, 11.7.2023)