Sarah Mersch aus Tunis

Mehr als eine Milliarde Euro hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Tunesien Anfang Juni in Aussicht gestellt – kurzfristige Budgethilfe für die krisengeplagte Wirtschaft des kleinsten der drei Maghreb-Staaten ebenso wie zusätzliche Gelder für Grenzmanagement, Such- und Rettungsaktionen für Migranten auf dem Mittelmeer. Konstruktiv seien die Gespräche gewesen, die sie gemeinsam mit der rechten italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni und Staatspräsident Kais Saied geführt hatte, hieß es damals. Doch ob Tunesien wirklich ein geeigneter Standort für ausgelagerte Asylzentren der EU sein könnte, wie in Europa nicht erst seit dem Asylkompromiss der europäischen Innenminister diskutiert wird, daran kommen nun erneut Zweifel auf.

In Sfax gibt es immer wieder Demonstrationen gegen die Migrantinnen und Migranten.
APA/AFP/HOUSSEM ZOUARI

Mehrere Hundert Migrantinnen und Migranten, darunter Schwangere und Kinder, hatte die tunesische Regierung seit Anfang Juli in die Grenzgebiete zu Algerien und Libyen abgeschoben – mitten in die Wüste, ohne Wasser oder sonstige Versorgung, bei Temperaturen von über 40 Grad. Der einzige Kontakt zu ihnen: einzelne Bilder, Videos und Sprachnachrichten, solange Batterie und Guthaben noch ausreichten. "Einer ist zusammengebrochen, wir mussten ihn zurücklassen." Jetzt seien sie noch zu viert, irgendwo im Niemandsland, sagt ein Mann mit brüchiger Stimme in einer Nachricht an Journalisten und Hilfsorganisationen. "Wir haben kein Wasser mehr. Bald sterben wir."

Militärisches Sperrgebiet

Die Informationen unabhängig zu überprüfen ist quasi unmöglich, denn die meisten Menschen wurden in ein militärisches Sperrgebiet an der Grenze zu Libyen deportiert. Erst am Sonntag erlaubte die Regierung Helfern des tunesischen Roten Halbmonds den Zugang zu den Migranten. Einige von ihnen wurden inzwischen in provisorische Auffanglager in Südtunesien gebracht.

Laut einer Pressemitteilung der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch seien unter den Abgeschobenen auch Personen, die sich regulär in Tunesien aufhalten, zum Beispiel als Studierende oder als anerkannte Flüchtlinge. Die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) hat am Montag im Namen eines Migranten den UN-Ausschuss gegen Folter angerufen. Der Betroffene sei seit dem 1. Juli festgehalten, an die Grenze deportiert und misshandelt worden sein. Die unwürdigen Lebensbedingungen, insbesondere der Entzug von Wasser und Nahrung, stellten eine Form der Folter dar, so die Organisation.

Regierung weist Vorwürfe zurück

Tunesiens Regierung wies zuletzt die Vorwürfe der Abschiebung in die Grenzgebiete von sich. Bei einem Treffen mit dem Leiter des Roten Halbmonds sprach Präsident Saied von Menschen, die "an den Grenzen auf tunesischem Boden festsitzen", und "vertriebenen Migranten", ohne jedoch für die Situation Verantwortung zu übernehmen oder die Urheber der Vertreibung zu benennen.

In einer gemeinsamen Erklärung machten rund 30 tunesische Organisationen die EU mitverantwortlich für die aktuelle Situation. So habe ihre Politik, die Grenzen "auf die Länder des südlichen Mittelmeerraums zu verlagern und sie dazu zu zwingen, die Rolle von Grenzschützern zu übernehmen, wesentlich zu der gegenwärtigen tragischen Situation beigetragen."

Ausschreitungen in Sfax

Den Abschiebungen vorausgegangen waren Auseinandersetzungen zwischen Tunesiern und Migranten in der Hafenstadt Sfax. Die zweitgrößte Stadt Tunesiens war in den letzten Monaten zur Drehscheibe irregulärer Migration nach Europa geworden. Anfang Juli starb ein Tunesier unter noch ungeklärten Umständen bei gewalttätigen Auseinandersetzungen. Bereits im Februar war es zu tätlichen Angriffen von Teilen der tunesischen Bevölkerung auf subsaharische Migranten gekommen.

Nachdem in Sfax Anfang Juli ein Tunesier starb, kam es zu Ausschreitungen.
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Damals hatte der Präsident erklärt, es gäbe kriminelle Bestrebungen, die Demografie des Landes zu ändern, indem man "Horden von Migranten" in dem nordafrikanischen Staat ansiedle. Seitdem hatten viele in Tunesien ansässige Menschen aus dem subsaharischen Afrika das Land fluchtartig über das Mittelmeer verlassen. (Sarah Mersch aus Tunis, 12.7.2023)