"Es hat sich angefühlt wie ein Erdbeben", erzählt Kayan Tlays über den Zeitpunkt, als ein riesiger Ammoniumtank vor drei Jahren in Beirut die Luft flog. Er und sein Bruder Mohammed arbeiteten damals noch beide am Hafen in der libanesischen Hauptstadt, Kayan war zum Zeitpunkt der Explosion nicht vor Ort. Kurz darauf fand er sich in den Trümmern wieder, auf der Suche nach seinem Bruder. "Es war wie ein Albtraum."

Zerstörung am Hafen in Beirut
Im Hafen von Beirut ist die Zerstörung auch heute noch sichtbar.
Hilfswerk / Bobdo / Andreas Aichholzer

Und bis heute gebe es keine Gerechtigkeit, beklagt Tlays. Hunderte Tonnen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat waren über Jahre fahrlässig im Hafen von Beirut gelagert worden. Die massive Explosion vom 4. August 2020 verwüstete ganze Stadtteile Beiruts. Mehr als 200 Menschen starben, darunter auch Kayan Tlays Bruder Mohammed. 6.500 Menschen wurden verletzt und rund 300.000 obdachlos.

Die genaue Ursache ist noch immer nicht restlos geklärt. Vor einem libanesischen Gericht musste sich bisher niemand verantworten, die politisch Betroffenen behindern die Justiz. Aber die Folgen der Explosion betreffen Millionen von Menschen: Das merkt man auch an diesem Sommertag in der libanesischen Hauptstadt, als der Busfahrer plötzlich erzählt, dass auch er einen Cousin bei der Explosion vor drei Jahren verloren hat. Er bricht in Tränen aus.

Kayan Tlays mit einem Foto seines Bruders
Kayan Tlays fordert seit drei Jahren Gerechtigkeit, nachdem sein Bruder bei der Explosion im Hafen von Beirut getötet wurde.
Hilfswerk / Bobdo / Andreas Aichholzer

Erst zehn Tage nach der Explosion wurde Tlays der Leichnam seines Bruders überstellt – dachte er. In Wirklichkeit handelte es sich um einen ihm völlig unbekannten Franzosen, erzählt der 48-Jährige. Die Behörden hatten die Männer verwechselt. Erneute vier Tage später, also zwei Wochen nach der Explosion, konnte Mohammed beerdigt werden. Er hinterließ eine Ehefrau und zwei kleine Kinder.

"Die Toten werden nicht zurückkommen, wir würden uns aber schon besser fühlen, wenn die Verantwortlichen hinter Gitter kommen", sagt Tlays, doch man hört den Pessimismus in seiner Stimme. "Wir haben keine Regierung, niemand fragt nach uns."

Schwere Wirtschaftskrise

Die Folgen der Explosion sind nur eine von vielen Katastrophen, die den Libanon plagen. Durch jahrzehntelange Misswirtschaft und Korruption ist das Land pleite. Die Privatbanken haben der Zentralbank viel Geld geliehen, das in privaten Taschen versackt ist. Nachdem der Staat die Schulden an die Privatbanken nicht zurückgezahlt hat, beschränkten die Banken die Auszahlung an ihre Kundinnen und Kunden, damit nicht noch mehr Geld aus dem verschuldeten Bankensystem abfließt.

Wer vor der Krise Dollar auf der Bank angespart hatte, durfte plötzlich nicht mehr darauf zugreifen. Möglich war es wenn, dann nur in libanesischen Pfund, nicht in US-Dollar. Die landeseigene Währung ist aber schlicht nichts mehr wert. Vergangenes Jahr häuften sich die Berichte über Libanesinnen und Libanesen, die in ihrer Verzweiflung Banken überfielen, um an ihr eigenes Geld zu kommen.

Im Februar hat die Regierung den offiziellen Umrechnungskurs zum US-Dollar verändert und das Pfund um 90 Prozent abgewertet. Ein US-Dollar entspricht damit 15.000 libanesischen Pfund – was aber noch weit unter dem tatsächlich im Markt genutzten Kurs liegt. Wechselstuben kaufen einen Dollar für rund 100.000 Pfund. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben mittlerweile in Armut, vier von zehn Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 100 US-Dollar im Monat. Hinzu kommen die Millionen syrischer und palästinensischer Flüchtlinge, die im Land unter noch prekäreren Umständen leben. Kein anderer Staat beherbergt pro Kopf mehr Flüchtlinge als der Libanon.

Kein Vertrauen in die Regierung

"Mein Leben hat sich in den vergangenen Jahren mehrere Male verändert", sagt die Anfang 30-Jährige Libanesin Nadia*. Sie spricht von "mehreren Krisen auf einmal". Die Corona-Pandemie und die Explosion im Hafen haben die 2019 ausgebrochene schwere Wirtschaftskrise noch verschärft. Gab es früher wenige Stunden am Tag keine Elektrizität, kam es in den vergangenen Monaten immer wieder vor, dass es nur eine Stunde Strom gab. Im Sommer bei zeitweise über 40 Grad geht es dabei nicht nur um Klimaanlagen, die können sich viele ohnehin nicht leisten. Sondern etwa um Kühlschränke, in denen zu immer teureren Preisen eingekaufte Lebensmittel verderben. "Immer häufiger sieht man hier deshalb Photovoltaikanlagen", erzählt Mireille Karaky vom Hilfswerk International. "Nicht, weil wir besonders umweltfreundlich sind, sondern weil man sich auf die Regierung und die Versorgung einfach nicht verlassen kann."

Auch Nadia kritisiert die Regierung, sie hätte "in allen Bereichen anders handeln können". Gleichzeitig ist die Lehrerin aber nicht überrascht: "Diese Regierung hat eine Vorgeschichte, das zu tun, wovon die eigene Partei oder die Reichen profitieren." Die derzeitigen Krisen würden ihrer Ansicht nach nicht anders gemanagt werden als zuvor. Bei Wahlen gilt seit Jahrzehnten ein Proporzsystem, das an Religionen gebunden ist und das wie die grassierende Korruption für den politischen Stillstand im Land verantwortlich gemacht wird. Derzeit gibt es nicht einmal eine gewählte Regierung, seit Mai 2022 ist lediglich eine geschäftsführende am Werk. Das Amt des Präsidenten ist seit vergangenem Oktober nicht besetzt. Derweil ist das Regierungsviertel Beiruts von Barrikaden und Armeeangehörigen geprägt – die Angst vor Protesten bleibt bei den politisch Verantwortlichen wohl präsent.

Ein Soldat vor dem libanesischen Parlament in Beirut, das Mitte Juni zum zwölften Mal daran scheiterte, einen Staatspräsidenten zu wählen.
REUTERS

Doch die Bevölkerung scheint resigniert zu haben. Wer kann, ist ins Ausland gegangen, auch viele Bekannte und Angehörige von Nadia, erzählt die Libanesin. "Das Schlimmste ist die Unklarheit, wir wissen einfach nicht, wie es weitergeht", sagt sie. Das Einzige, das klar sei: "Die Menschen haben einfach kaum Hoffnung, dass sich wirklich etwas verbessern wird." (Noura Maan aus Beirut, 4.8.2023)