Abseits
Abseits oder nicht, das ist oftmals die Frage.
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Die Fifa-Initiative für eine neue Abseitsregel geht auf einen Vorschlag von Ex-Arsenal-Trainer Arsene Wenger zurück. Ein Spieler soll nicht mehr im Abseits stehen, so sich ein Körperteil, mit dem ein Tor erzielt werden kann, auf gleicher Höhe mit einem Verteidiger befindet. Derzeit wachelt der Assistent, wenn nur ein Körperteil näher am Tor ist. Folgt bald eine Torflut? Und wollen wir das?

Ja

Das Arnautovic-Goal hätte gezählt!

Wir wollen das! Denn, sind wir uns doch ehrlich: Fußball ist eigentlich ziemlich langweilig. Handball, Basketball, Volleyball oder auch Eishockey, um bei den Teamsportarten zu bleiben, waren immer schon vorzuziehen. Weil ständig etwas passiert. Der Fußball lebt vom Konjunktiv. Es könnte ständig etwas passieren. Mir ist das zu wenig. Und ich will nicht wissen, wie viele Matches ich gesehen habe, die gar nichts konnten und genau so endeten, wie sie zwei Stunden zuvor begonnen hatten. Torlos. Null zu null, Doppelnull. Zwei Stunden verlorene Lebenszeit. Das gibt es in keiner anderen Ballsportart und auch im Eishockey nur alle heiligen Zeiten einmal.

Höchste Zeit, dass sich der Fußball eine Scheibe abschneidet. Beschlossen ist die Einführung der neuen Abseitsregel ja noch nicht, ein wenig Geduld wird uns noch abverlangt. Aber immerhin laufen die Tests in italienischen Nachwuchsligen seit mehr als einem Jahr. Natürlich werden mehr Tore fallen, das ist sonnenklar, und es sollen ja auch mehr Tore fallen. Überlegen Sie mal, wie viele wunderbare Goals uns genommen wurden, weil irgendein Video-Referee in irgendeiner Einstellung irgendein Zehenspitzerl irgendeinen Zentimeter rauslugen sah.

Und denken Sie zurück ans Achtelfinale der EM 2021! Wembley-Stadion, Österreich gegen Italien, es steht 0:0, wir schreiben die 65. Minute: Arnautovic trifft per Kopf! Doch dieser Kopf war leider im Abseits, das Tor zählt nicht, Italien gewinnt nach Verlängerung 2:1, wird Europameister. Der linke Arnautovic-Fuß war übrigens zumindest "gleiche Höhe", in heute absehbarer Zukunft würde das Tor gelten oder auch gegolten haben, wahrscheinlich hätte Österreich den EM-Titel geholt und Franco Foda ein Denkmal errichtet. Doch leider hat Arsene Wenger, der legendäre französische Trainer, nach 22 Arsenal-Jahren zu spät begonnen, bei der Fifa neue Regeln zu entwickeln. Oder, anders gesagt: Österreich war seiner Zeit voraus.

Ich bin, das kommt noch dazu, ein Happel-Stadion-gebranntes Kind. In der Pause eines Länderspiels pflege ich mich bei einem der gefühlt drei Buffets im Stadion um Getränke anzustellen. Da steh ich und steh ich bis weit in die zweite Spielhälfte hinein – und laufe stets Gefahr, das eine entscheidende Tor zu verpassen. Bei einem Spiel, in dem vier bis zehn Tore fallen, wäre die Anstellerei weit nicht so tragisch. Also her mit der neuen Abseitsregel! (Fritz Neumann, 13.7.2023)

Nein

Niemand denkt an die Schiedsrichter!

Wir wollen das nicht! Es mag für Konsumenten zunächst durchaus verlockend klingen, wenn der mit Abstand beliebtesten Mannschafts- sportart zu noch mehr Attraktivität verholfen werden kann. Erst recht, wenn die viele aussichtsreiche Spielsituationen störende Abseitsregelung reformiert und dadurch mehr Tore in Aussicht gestellt werden können. Durch die angedachte Reform sollen die Diskussionen über etwaige Fehlentscheidungen eingedämmt und dadurch das Spiel selbst flüssiger und damit ansehnlicher werden.

So weit, so gut, doch kann das funktionieren? Wohl kaum! Für die in strittigen Situationen besonders geforderten Schieds- und Linienrichter ändert sich nichts zum Guten, sie müssten weiter mit Adleraugen erkennen, ob etwa eine Zehenspitze ein Abseits aufhebt oder nicht. Und der ob zahlreicher offensichtlicher oder zumindest diskussionswürdiger Fehlentscheidungen ohnehin beinahe permanent in der Kritik stehende Videoschiedsrichter VAR wäre wohl auch künftig mit ähnlich vielen herausfordernden Entscheidungen konfrontiert.

Warum aber kam dann überhaupt der Vorschlag einer Abseitsreform von der früheren Arsenal-Trainerlegende Arsene Wenger? Der 73-jährige Franzose ist im Weltverband Fifa für die globale Fußballförderung zuständig und um eine Weiterentwicklung bemüht. Sein Boss, Gianni Infantino, gilt als Unterstützer dieser geplanten Reform. Den Fifa-Chef kümmert aber nicht, ob die Regeländerung dem Fußball an sich dienlich ist. Vielmehr ist zu befürchten, dass es wieder einmal vorrangig um das Geschäft geht. Denn es ist gut möglich, dass es zu noch mehr Diskussionen und Aufregung und einer noch polarisierenderen Show kommt, die garantiert auch mehr Einnahmen in die Kassen des Weltverbands spülen würde.

Da spielt es freilich keine Rolle, ob Schiedsrichter am Feld oder im Kämmerchen (VAR) mehr oder weniger gefordert sind, die richtige Entscheidung zu treffen. Da kümmert es auch nicht, wenn die Männer mit der Pfeife oder mit der Fahne am Spielfeldrand etwa in unterklassigen Ligen mitunter grob überfordert sind, wenn sie strittige Situationen beurteilen müssen und – wie in diesen Sphären üblich – nicht den VAR konsultieren können. Sinnvoll wäre, wenn auch die Zuschauer leicht erkennen können, ob alles regulär abläuft. Neue Abseitsregel? Nein, danke! (Thomas Hirner, 13.7.2023)