Thomas Mayer aus Vilnius

Wolodymyr Selenskyj bei einer umjubelten Rede vor Tausenden, nach der er sich mit Staatspräsident Gitanas Nausėda in den Armen lag. Er zeigt sich bitter enttäuscht, weil die Nato seinem Land nicht sofort die Mitgliedschaft anbietet. Der ukrainische Präsident dann Dienstagabend mit seiner Gattin Olena beim Dinner mit den 31 Staats- und Regierungschefs der Nato, entspannt mit den Macrons aus Frankreich scherzend.

Selenskyj am zweiten Tag des Gipfels der Allianz bei einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, in der er für "all die Hilfe und Unterstützung" dankt, dann erstmals offiziell im Nato-Rat – dem höchsten Gremium –, wo er auf Augenhöhe mit am Tisch sitzt. Zwischendurch im vertrauten Gespräch mit US-Präsident Joe Biden.

Japans Premier Fumio Kishida (Mitte) mit US-Präsident Joe Biden (links) und dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj (rechts).
Japans Premier Fumio Kishida (Mitte) kündigte gemeinsam mit US-Präsident Joe Biden (links) und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (rechts) eine G7-Erklärung zur Unterstützung der Ukraine an.
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Selenskyj überall in Vilnius: Fast konnte man meinen, das Bündnistreffen habe kein anderes Thema gehabt als die Ukraine. Konkret: Wie die Nato mit diesem Land umgehen soll, dessen Präsident auf einen raschen Beitritt drängt, "weil wir Sicherheit einbringen, mit Soldaten, die gezeigt haben, dass sie stärker sind als die Aggressoren".

In gewisser Weise stimmte dieser Eindruck auch. Der russische Eroberungskrieg, Wladimir Putins Versuch, Präsident und Regierung in Kiew zu beseitigen, und die möglichen Folgen für die Sicherheit in Europa schwebten im Hintergrund.

Die meisten Themen betrafen naturgemäß aber nicht direkt das Land, das nach Worten Selenskyjs "ums Überleben kämpft". Die Nato ist im Kern vor allem ein Verteidigungsbündnis, betonte Stoltenberg. Die kollektive Beistandspflicht gilt für alle Staaten, die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit folgen. Die Ukraine gehört, so Biden, prinzipiell dazu, kann aber im Kriegszustand nicht beitreten.

Video: Beim Nato-Gipfel in Litauen hat US-Präsident Joe Biden den Zusammenhalt des Militärbündnisses beschworen. Russlands Präsident Wladimir Putin habe beim Überfall auf die Ukraine gedacht, die Nato würde auseinanderbrechen, sagte Biden. "Aber da hat er sich geirrt!"
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Mehr Geld für Verteidigung

Jedoch hält die Nato gemäß der Erklärung von Vilnius einen Angriff Russlands auf ein Nato-Land wieder für möglich. In 90 Punkten wird beschrieben, wie die Gefährdungen gelagert sind. Es klingt wie im Kalten Krieg. Um sich gegen eine mögliche Aggression zu wappnen, fixierten die Staats- und Regierungschefs sehr konkrete Maßnahmen. Grundlage: Die nationalen Verteidigungshaushalte der Europäer müssen kräftig wachsen, die gesamte militärische Strukturplanung wird gemeinsam neu ausgerichtet (siehe Wissen). "Jeder Zentimeter" werde kollektiv verteidigt, sagte Biden, der als Mächtigster im Kreis mit sanftem Druck und Zusagen für Waffenlieferungen für Kompromisse in Streitfragen sorgte.

Dazu gehörte, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dazu zu bringen, dem Beitritt von Schweden zur Nato zuzustimmen. Damit wird der gesamte Ostseeraum zum Bündnisgebiet. Neutralität ade.

Was nun die Ukraine betrifft, einigten sich die 31 Nato-Partner auf eine Kompromissformel, mit der sich am Ende sogar der bei seiner Ankunft noch enttäuschte Selenskyj am Ende "zufrieden" zeigte. Der Gipfel bekräftigte die bereits 2008 erklärte "Perspektive", hielt aber gleichzeitig fest, dass die Ukraine sich zuletzt gut auf dem Weg dorthin befinde. Um dies zu untermauern, wurde die Einrichtung eines Nato-Ukraine-Rats beschlossen: Selenskyj kann also jederzeit auf Augenhöhe mit der Nato verhandeln, weitere Militärkooperationen ausbauen. Es ist das ein Sonderstatus, den ein einzelnes Nato-Mitglied nicht per Veto verhindern kann.

"Wichtiges Signal"

Der ukrainische Präsident betrachtete das als "wichtiges Signal" an die Welt, vor allem aber an seine Landsleute. Er verstehe zwar, dass die Ukraine aktuell nicht Nato-Mitglied werden könne; es müsse aber klar sein, dass das vollzogen wird, sobald es Frieden gebe. Stoltenberg betonte: "Moskau hat kein Vetorecht." Allein die Ukraine habe zu entscheiden, welchem Bündnis sie angehören will.

Das Ehepaar Selenskyj, die besonderen Gäste beim Nato-Gipfeltreffen im litauischen Vilnius. Im Bild im Gespräch mit Brigitte Macron, dahinter deren Ehemann Emmanuel Macron und der Niederländer Mark Rutte.
Das Ehepaar Selenskyj, die besonderen Gäste beim Nato-Gipfeltreffen im litauischen Vilnius. Im Bild im Gespräch mit Brigitte Macron, dahinter deren Ehemann Emmanuel Macron und der Niederländer Mark Rutte.
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Implizit ist das längst entschieden. Selenskyj erhielt in Vilnius umfangreiche Zusicherungen, der deutsche Kanzler Olaf Scholz legte gar ein Paket im Umfang von 700 Millionen Euro auf den Tisch: für Panzer, Munition und Luftabwehrraketen. Dänemark und die Niederlande werden ukrainische Soldaten ab sofort an F-16-Kampfjets ausbilden. Und vieles mehr. Die Nato erhöht weiter die Schlagzahl der Hilfen.

Definitiv zufrieden war der ukrainische Präsident schließlich, als die anwesenden G7-Staaten dem Land zum Abschluss des Gipfels umfangreiche Sicherheitsgarantien gaben – "langfristig und umfassend". Sie wollen der Ukraine helfen, "eine zukunftsfähige Truppe" aufzubauen und das Land "jetzt zu verteidigen". (Thomas Mayer aus Vilnius, 12.7.2023)