Im Militärjargon werden immer wieder Metaphern genutzt, die sich auf Tiere beziehen – ob diese nun wissenschaftlich haltbar sind oder nicht. "Boiling the frog" ist so eine. Sie handelt von einem Frosch, der nicht merkt, dass er gekocht wird, weil das Wasser nur langsam erhitzt wird. Aufs Militär umgelegt meint man damit, den militärischen Druck auf den Gegner zu steigern, ohne dass dieser schnappartig eskaliert. Im Falle Russlands wäre diese letzte Eskalation wohl die Atomwaffe und die steigende Wassertemperatur eine Analogie zu den Waffenlieferungen des Westens. Zu Beginn des Interviews in der Bibliothek des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen verteidigt der aktuell wohl gefragteste Erklärer zum Ukrainekrieg, US-Historiker Timothy Snyder, Frösche und deren Intelligenz. Sie würden sehr wohl springen: Auch Präsident Wladimir Putin werde springen, sich aus der Ukraine verziehen, weil Moskau den Krieg verliere, so Snyder.

STANDARD: Ist Russland der Frosch im siedenden Wasser?

Snyder: Ich denke, das ist ein ganz normaler Krieg, in dem jene Seite gewinnt, die mehr Druck auf das politische System des anderen ausübt. Wir haben eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne und unangemessene Erwartungen darüber, wie lange Kriege dauern. Wir erwarten aus irgendeinem Grund auch immer ein dramatisches Ende. Ein solches wird es aber nicht geben. Der russische Frosch ist zwar gerne im Wasser, will dort aber nur so lange bleiben, bis es zu heiß wird. Und ja, Russland wird die Ukraine verlassen, wenn es zu schwierig wird. Und es ist nicht die Aufgabe des Westens, unbemerkt die Hitze für Russland hochzudrehen. Es ist die Aufgabe des Westens, Russland klarzumachen, dass es heiß wird. 

STANDARD: Sie sagen es ist ein "normaler Krieg". Es ist also auch eine normale Entwicklung, dass Berlin zu Kriegsbeginn noch über die Lieferung von 5.000 Helmen diskutierte und der Westen nun wohl bald schon Streumunition und F-16-Kampfjets schickt?

Snyder: Wenn ich von einem „normalen Krieg" spreche, rede ich davon, dass dieser Krieg mit Waffen und nicht mit Intentionen gekämpft wird. Wenn es meine Intention ist, dass die Ukraine gewinnt, muss ich Waffen liefern, Geld bereitstellen. Dieser Krieg ist normal, aber wir hatten vorab viel abnormale Vorstellungen über ihn. Etwa die Annahme, dass es tiefgründige Erklärungen hinter Russlands Handeln und Putins Motiven gibt. Dabei kämpft Russland diesen Krieg, um die Ukraine zu zerstören, ihre Ressourcen zu ergattern, die Elite der Ukraine zu töten. Das sind Dinge, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert wurden. Wir wollten glauben, dass dieser Krieg etwas Ungewöhnliches ist, dass es irgendwie um die Nato oder die Psychologie Putins geht, dabei geht es nur um die Eroberung und Zerstörung eines Landes durch ein anderes. Gerade die deutsche Politik hat mittlerweile aber ein normaleres Verständnis dessen bekommen, was ein Krieg ist – trotz eines grundlegenden europäischen Missverständnisses der eigenen Vergangenheit.

Timothy Snyder.
Timothy Snyder sagt, dass Russland erst verlieren muss, damit etwas Neues entstehen kann.
Regine Hendrich

STANDARD: Welches Missverständnis?

Snyder: Europäer glauben, es gäbe eine europäische Friedensordnung. Aber das stimmt nicht. Sie haben eine postimperiale Ordnung, die auf einer Niederlage basiert. Österreich ist heute dieses wundervolle Land, weil es einen Krieg verloren hat, weil das Dritte Reich verloren hat. Frieden ist nicht einfach eingetreten. Eine Niederlage ist passiert. So wie auch Frankreich 1962 in Algerien, die Niederlande in Indonesien 1948, Belgien im Kongo sowie Portugal und Spanien in Afrika verloren haben. Es waren Niederlagen der Imperien, die es dem europäischen Projekt ermöglichten, zu existieren und zu gedeihen. Seit Jahrzehnten redeten sich die Europäer ein, dass Russland friedlich sei. Ist es nicht. Russland verliert gerade seinen imperialen Krieg. Und damit das europäische Projekt Europa weitergehen kann, müssen die Europäer Russland helfen, seinen imperialen Krieg zu verlieren.

STANDARD: Die Ukrainer konnten mittlerweile einige anfangs skeptische Partner überzeugen, dass sie diesen Krieg gewinnen können. Manche glauben aber noch immer nicht daran.

Snyder: Die Einsicht hinkt der Realität noch hinterher, aber sie kommt langsam. Viele Europäer hatten zu Kriegsbeginn eine koloniale Einstellung der Ukraine gegenüber. Dass sie kein eigenständiges Land sei, eine gespaltene Bevölkerung habe mit zu vielen Sprachen und alle seien korrupt. Wäre die Ukraine aber das Land, für das es viele hielten, hätte sie nicht überlebt. Für Europäer und Amerikaner war schwer zu verstehen, dass die Ukrainer Dinge leisten konnten, zu denen wir nicht fähig gewesen wären. Eine Eisenbahn etwa auch im Krieg pünktlich zu betreiben. Die USA sind gut darin, Waffen zu bauen und zu verschiffen, sie könnten sie aber nie derartig schnell reparieren oder improvisieren. Mittlerweile haben aber sogar Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzler Olaf Scholz verstanden, dass die künftige europäische Ordnung die Ukraine involvieren muss. Die Ukraine wird  bleiben. Wolodymyr Selenskyj ist bereits in den Geschichtsbüchern, ohne ihn wird es nicht funktionieren, man muss mit ihm arbeiten.

STANDARD: Zwei Russen, die in der Vergangenheit keine Angst vor Blutvergießen gezeigt hatten – Prigoschin und Putin ­–, haben die direkte Konfrontation mit dem Argument, Blutvergießen vermeiden zu wollen, abgeblasen. Was war da los?

Snyder: Was genau geschah, weiß niemand, aber: Frankreichs Präsident Macron und viele im Westen sind der Meinung, man könne Putin nicht demütigen. Aber natürlich können wir Putin demütigen! Er demütigt sich selbst die ganze Zeit, davon können wir ihn auch nicht abhalten. All seine Demütigungen sind Folgen seiner Fehler in der Ukraine. Und jedes Mal, wenn er gedemütigt wird, erfindet er eine Geschichte, lenkt er die Aufmerksamkeit um und ändert die Propagandalinie. Und wir müssen da nicht mitspielen. Als Prigoschin mit tausenden Truppen in Richtung Moskau marschierte, lief Putin weg und floh auf seine Yacht, aber irgendwie ist er in immer in der Lage, sein Verhalten den Russen zu erklären. Und wenn er alle Truppen aus der Ukraine abziehen muss, muss er erneut eine Geschichte finden, die er erzählen kann. Wenn nicht, verliert er seine Macht und jemand Neuer wird beginnen, Geschichten zu erzählen.

Putin und Prigoschin, gute Geschichtenerzähler und skrupellose Herrscher.
APA/AFP/SPUTNIK/ALEXEY DRUZHININ

STANDARD: Ist Putin aktuell schwächer als je zuvor, seit er Präsident ist?

Snyder: Es ist ein wenig wie Anfang der 1950er mit Josef Stalin. Er ist noch da, noch an der Macht, aber Menschen beginnen, wichtige Dinge ohne ihn oder an ihm vorbei zu besprechen. Es ist mittlerweile ein anderes Regime.

STANDARD: Bleibt das System Putin auch nach Putin?

Snyder: Das ist unmöglich zu beantworten. Wenn man sich die Geschichte Russlands anschaut, gab es nach den zaristischen Niederlagen auf der Krim oder in Japan entweder kleine Reformen oder kurze demokratische Experimente, aber schon bald folgte eine Revolution. Wenn Russland diesen Krieg verliert, was es tut, wird es Versuche geben, das System so zu übernehmen, wie es ist. Das wird aber schwierig. Denn obwohl er weniger schnell, weniger präsent, weniger lustig und weniger selbstbewusst ist als noch 2014, obwohl er nicht mehr der Politiker ist, der er einmal war, ist er immer noch im Zentrum des Systems, das er aufgebaut hat. Er ist das System Putin. Und es gibt sehr viele gute Gründe, warum die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss. Aber es gibt ebenso viele Gründe, warum Russland diesen Krieg verlieren muss. Nur so gibt es die Chance auf einen Neubeginn. Das schlechteste Ergebnis für Russland wäre ein Szenario, in dem Putin so tun kann, als hätte er gewonnen.

STANDARD: Ein russischer oppositioneller Youtuber sagte mir einmal, dass seiner Ansicht nach eines der Hauptprobleme darin besteht, dass in Russland jeder denkt, dass sein Nachbar pro Putin sei und Anti-Putin-Leute deshalb gar nie ins Gespräch über ihren Politfrust kommen.

Snyder: Empirisch kann ich das nicht sagen, aber den Punkt hat Václav Havel in seinem Essay "Die Macht der Machtlosen" schon gemacht. Dass es nicht wichtig sei, was man glaube, sondern dass man so tut, als würde man etwas glauben. Und dann müssen die anderen auch so tun, und irgendwann tun wir dann alle so. Was wir aber bei der Revolte in Rostow am Don gesehen haben, spricht für das Argument des Youtubers. Denn als plötzlich eine neue Gang in der Stadt war, waren einige sehr begeistert und die anderen nahmen es fast reaktionslos hin. Es gab aber keine Pro-Putin-Proteste. Die besten Russen sind im Gefängnis oder im Ausland, das System ist sehr gut darin, potenzielle Gefahren zu eliminieren. Aber so nimmt man dem Land halt auch jegliche Alternativen, was im Umkehrschluss aber nicht heißt, dass die Person im Zentrum des Systems beliebt ist.

Russischer oppositioneller Youtuber: "Alle glauben ihr Nachbar sei pro Putin"
Maxim Katz analysiert für Millionen Russinnen und Russen den Krieg. Er ist überzeugt, dass viele Landsleute Putin und sein Regime ablehnen und dass Putin ins Wackeln kommen wird
DER STANDARD

STANDARD: Auch wenn sie es nicht zugeben würden, haben die Ukrainer – gemeinsam mit Anti-Putin-Russen und dem Wagner-Aufstand – den Krieg auch auf russisches Territorium gebracht. Eine gute Entscheidung?

Snyder: Wir haben die seltsame Tendenz zu glauben, dass dieser Krieg nach anderen Regeln geführt werden muss, als jeder andere Krieg in der Geschichte. Als das nationalsozialistische Deutschland in die Sowjetunion einmarschierte, sagte niemand zu Stalin, dass er vor Berlin stehen bleiben muss. Wenn du angegriffen wirst, hast du die Wahl, wie du reagierst. Die Idee, dass das komplette russische Staatsgebiet ein Safe Space sein soll, ist absurd. Das macht es für die Ukraine strategisch sehr schwer.

STANDARD: Aber auch die Ukrainer selbst sagen immer, sie wollen die modernen westlichen Waffen nur auf dem eigenen Territorium einsetzen.

Snyder: Ein Argument, das ihnen aufgezwungen wurde, würde ich meinen. Aber das ist doch verrückt und schränkt das angegriffene Land immens ein. Hätten wir im Zweiten Weltkrieg den Franzosen sagen sollen, dass sie nicht via Italien einen Angriff auf Deutschland verüben können? Kein Ukrainer hat Interesse daran, sich russisches Territorium einzuverleiben. Aber man kann einen Krieg nicht wirklich führen, wenn man nicht die Logistik der anderen Seite angreifen darf. Was soll die Vorstellung, dass Russland Luftwaffenstützpunkte haben darf, von wo aus es Marschflugkörper auf Kiew abfeuern kann, und die Ukrainer dürfen nichts dagegen tun? Strategisch kann man so einen Krieg einfach nicht führen. Es sollte also völlig normal sein, dass sie russische Logistik, Kommunikation oder Stützpunkte auch in Russland angreifen dürfen.

STANDARD: Und Angst unter der russischen Bevölkerung verbreiten? 

Snyder: Niemand sollte Zivilisten angreifen. Aber eine Drohne auf das Kremldach stürzen zu lassen, das ist lustig. Das hat niemandes Leben gefährdet und war einfach nur saukomisch. Aber klar ist es auch wichtig, dass die Russen realisieren, dass sie im Krieg sind. Denn niemand übernimmt Verantwortung. Putin sagt, er sei durch die Nato und die Geschichte zur Invasion in der Ukraine gezwungen worden, die Mobilisierung der Russen geschah auch einfach irgendwie. Und niemand sagt ihnen, dass ein Angriffskrieg auch negative Folgen haben wird. Ich wünschte, wir könnten ihnen einfach ein SMS schreiben, aber das geht nicht, und so müssen wohl ein paar Dinge passieren, die die Russen erinnern, dass sie sich im Krieg befinden.

STANDARD: Fast eineinhalb Jahre nach der groß angelegten Invasion, neun Jahre nach dem Donbass-Krieg und der Einnahme der Krim, 15 Jahre nach der Invasion Georgiens? Welche Fehler machen der Westen, Österreich und die Medien immer noch im Umgang mit Russland? 

Snyder: Eine Sache, die fast jeder falsch macht, ist die Berichterstattung offizieller russischer Äußerungen. Wenn Moskau etwa sagt, die Ukrainer hätten den Staudamm bei Nowa Kachowka in die Luft gesprengt, dann ist das ein Teil des russischen Narrativs, aber kein Teil der Erzählung dessen, was passiert und zu berichten ist. Ebenso wenig, wie sich die Ukrainer nicht in die Luft sprengen, haben das auch die Syrer nicht getan. Nicht überall wo Russland hingeht, begehen die Menschen plötzlich massenhaft Suizid. Es ist ein Fehler, die russische und ukrainische Sicht der Dinge gleichberechtigt nebeneinanderzustellen. Das hatte im Fall des Staudamms verheerende Folgen: In der ersten Woche nach dem Desaster gab es nicht so viel Solidarität, wie es geben hätte sollen, weil diese verrückte Idee, die Ukrainer hätten sich das selbst angetan, draußen in der Welt war und von den Medien in den Mainstream getragen wurde – egal wie absurd es war und wie viel Beweise dagegen sprachen. Sollten die okkupierenden Russen auch das AKW Saporischschja in die Luft jagen, sollten wir nicht denselben Fehler machen.

Timothy Snyder findet, die Ukraine müsse auch russisches Territorium angreifen können.
Der STANDARD/Regine Hendrich

STANDARD: Was noch?

Snyder: Es ist ein analytischer Fehler, den fast jeder macht, Putin mit irgendwelchen nationalen Interessen Russlands in Verbindung zu bringen. Er ist weder um die Russen, noch um die Zukunft Russlands besorgt. Persönlich hat er wohl auch keine Angst vor der Nato, weiß aber, dass es in der Öffentlichkeit funktioniert. Er macht sich Sorgen darüber, wie sich die Geschichte an ihn erinnert. Er will als großer Anführer in Erinnerung bleiben. Würde man jemanden, dem Russland am Herzen liegt fragen, was für die Zukunft des Landes wichtig wäre, käme niemand zu den Entscheidungen Putins. Er müsste sich vor China fürchten, doch liefert sein Land den Chinesen aus. Putin ist eine Person in einem bestimmten tyrannischen Mafia-Regime, geleitet von persönlichen Beweggründen. Dieser alternde Typ, der seit mehr als zwanzig Jahren an der Macht ist und unbegrenzt Geld hat. Er ist vielmehr ein Elon Musk-Typ, ähnlich verantwortungslos und realitätsfremd. Niemand käme auf die Idee zu sagen, dass Elon Musk im Sinne der USA handelt. Handelt Wladimir Putin im Sinne Russlands? Nein.

STANDARD: Im "Economist" wurde Österreich nach Ungarn als der nützlichste Idiot Putins gekürt. Verdient?

Snyder: Auch in Indien, Südafrika und zahlreichen Autokratien im Globalen Süden gibt es viele Menschen, die die Lage der Ukraine verstehen, proukrainisch sind und wegen der eigenen Erfahrungen gegen Diktatoren wie Putin sind. Und das ist auch in Ungarn und Österreich so. Orbán ist eine wahnsinnig nützliche Figur für Putin, weil Orbán am meisten in dieser Xi-Putin-Trump-Welt verhaftet ist, in der es keine Moral gibt, in der es nur um Geld geht und Andersdenkende Vollidioten sind. Wenn die Europäer diesen Krieg gewinnen, werden sie nicht sagen, dass es dank der militärischen Stärke so war, sondern weil es um internationales Recht, um Völkermord, um Demokratien und Werte geht. In dieser Welt fühlt sich Orbán nicht wohl – deshalb muss er den Anti-Selenskyj geben.

STANDARD: Aber auch wir hier in Österreich haben Politiker, die Orbáns Arbeitsweise bewundern.

Snyder: Absolut. Wir in den USA auch, deshalb will ich als US-Amerikaner nicht immer die Österreicher kritisieren. In Österreich gibt es ein tiefgreifendes Problem, Neutralität mit moralischem Nihilismus zu verwechseln. Neutralität muss letztlich aber eine moralische Position sein. Es ist sogar eine verständliche. Es ist okay, wenn Österreich eine bestimmte Rolle spielen möchte, wo Parteien hingehen zum Verhandeln nachdem Kriege vorbei sind. Aber Neutralität muss, wenn sie Sinn machen soll, muss aus historischen und moralischen Überlegungen erwachsen. Und im Fall Österreichs beruht sie eben auf der Vorstellung, dass der Zweite Weltkrieg eine schreckliche Sache war und die Besatzung auch. Aber ich denke, es ist fair, die Österreicher daran zu erinnern, dass sie die Ukraine sowohl 1918 als auch 1941 besetzt haben, und dass die österreichische Geschichte neben dem Liberalismus und der Meinungsfreiheit, die sich im 19. Jahrhundert in Richtung Galizien entwickelt hat, was die Geburt der ukrainischen Nation erlaubt hatte, eben auch eine der Geschichte der Ausbeutung ist. Wenn wir also über Neutralität sprechen, müssen wir auch über die Geschichte sprechen und darüber nachdenken, was Österreich und die Ukraine konkret miteinander zu tun haben. Aber vor allem: Neutralität bedeutet nicht, dass die Welt einfach den Stärksten gehört. Wenn das deine Position ist, hilfst du nur der stärkeren Seite. Das ist nicht neutral. 

STANDARD: Mit Irland, Malta und Österreich leben noch rund 14,5 Millionen Menschen in einem neutralen EU-Staat. Ist diese Strategie noch zeitgemäß?

Snyder: Ich will hier nicht als Amerikaner österreichische Außenpolitik diktieren. Aber ich möchte betonen, dass Neutralität eindeutig aus spezifischen historischen Situationen entsteht und nicht von Gott gegeben ist, nicht einmal im Falle der Schweiz. Die Politiker, die für Österreich 1955 den Neutralitätsdeal ausverhandelten, haben unter diesen historischen Bedingungen gute Arbeit geleistet. Das hat sich seither bewährt. Wissend, dass Neutralität in einem historischen Moment gewachsen ist, ist es ist eben auch vernünftig, von Zeit zu Zeit zu fragen, ob wir uns immer noch in diesem Moment befinden. Neutralität bedeutete im Kalten Krieg etwas anderes als heute. Auch die Ukraine hat immer wieder mit der Neutralität geliebäugelt – in den 1990ern war das Argument sehr populär. Doch 2014 marschierte Russland ein. Erst seither drehte sich die öffentliche Meinung pro Nato, vorher war eine Mehrheit dagegen. Weil Geschichte eben passierte. Und deshalb sprechen nun 98 Prozent der Schweden davon, dass Russland eine Gefahr ist. Man ist neutral, weil man es für das Richtige für sein Land hält. Aber man muss sich eben ständig fragen, ob es in der aktuellen historischen Situation noch richtig ist. Meine Sorge bezüglich Österreichs Neutralität ist, dass sie es schwieriger macht, über Fragen des russischen Einflusses in Bezug auf Technologie und Finanzen zu sprechen. Die Neutralität kann einen Punkt erreichen, an dem sie verhindert, Angelegenheiten, die für ihre eigene nationale Sicherheit von zentraler Bedeutung sind, nicht zu untersuchen. Und an diesem Punkt hat sich die Neutralität quasi gegen sich selbst gewendet.

Mehrmals wurde Putin in Österreich hofiert.
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STANDARD: Genau dieser Diskurs fehlt Österreich aber.

Snyder: Österreich ist ein Land, das im Entstehen ist. Die Erste Republik hat nicht so gut geklappt. Die Zweite Republik lief bisher ziemlich gut, aber sie hatte einen seltsamen Start. Die Geschichte der Habsburger ist sehr alt und faszinierend, aber die Geschichte Österreichs als Nation ist eigentlich relativ neu – jünger als die Volkspartei und Sozialdemokratische Partei. Der Beitritt zur EU im Jahr 1995 war in der Tat eine große Veränderung. Das war keine Neutralität mehr im Sinne von 1955. Die Russen reden gerne über die Nato, aber die Nato tut in diesem Krieg eigentlich nichts, außer neue Mitglieder aufzunehmen. Die EU dagegen hat ja wirklich Dinge getan, und das deutet darauf hin, dass die Europäische Union historisch lebendig ist.

STANDARD: Wir werden also eine EU-Armee erleben?

Snyder: Ich persönlich glaube schon. Die Europäer sollten sich von den Amerikanern emanzipieren. Ihr solltet in der Lage sein, alleine mit der Ukraine zurechtzukommen – etwa für den Fall, dass Donald Trump die US-Wahlen 2024 gewinnt. Eure Wirtschaft ist so groß wie unsere. Euer militärisches Potenzial ist größer als jenes Russlands. Es sollte eine europäische Militärakademie geben, die Offiziere ausbildet, und das sollte meiner Meinung nach der Beginn europäischer Streitkräfte sein. Die russische Armee wirkt nur so groß, weil Europa keine hat. Aber Polen allein ist sogar in der Lage, eine ähnliche Armee wie Russland aufzustellen. Mit einer europäischen Armee – 60.000 Soldatinnen und Soldaten reichen – wäre der Krieg in der Ukraine wohl nicht passiert. Europa ist ein seltsames Gebilde, weil es ein enormes Missverhältnis zwischen kultureller und wirtschaftlicher Macht sowie militärischer Macht gibt. Gerechtigkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit reichen nicht aus, um Kriege zu verhindern. (Fabian Sommavilla, 15.7.2023)