Es knirscht in der russischen Führung, politisch wie auch im Militär. Nicht nur wurde Iwan Popow entlassen. Der Befehlshaber der 58. Armee, die in der Südukraine im Gebiet des AKW Saporischschja kämpft, hatte die ineffiziente Kriegsführung Moskaus kritisiert. Auch der Stuhl von Generalstabschef Waleri Gerassimow scheint zu wackeln. Die Kriegsherren streiten.

Vielleicht war das mit ein Grund, warum die Stimmung bei den 31 Staats- und Regierungschefs der Nato beim Abschluss des Gipfeltreffens in Vilnius Mitte der Woche trotz der angespannten Weltlage relativ gut war. Wenn der Aggressor Russland seine Schwäche nicht mehr verbergen kann, wirkt die eigene Stärke und Entschlossenheit umso mehr.

20 Seiten Entschlossenheit

Die drückten die Nato-Oberen in der "Erklärung von Vilnius", einem 20 Seiten umfassenden Papier, sehr deutlich aus. In 90 Punkten wird detailreich beschrieben, was die Allianz als Schutzmacht für eine Milliarde Menschen in ihren Mitgliedsländern in den kommenden Jahren alles tun wird, um die Sicherheit zu garantieren; wie sie sich neu aufstellen und aufrüsten wird; wie sie ihre rasche Eingreiftruppe von 300.000 Soldatinnen und Soldaten umorganisieren und die "Ostflanke" verstärken wird, um "militärischer Bedrohung, Terror und Cyberangriffen" zu begegnen.

Wolodymyr Selenskyj beim Nato-Gipfel in Brüssel.
Um Wolodymyr Selenskyj drehte sich in Vilnius (fast) alles: Nach seiner Ankunft hielt er öffentlich eine Rede, von Tausenden bejubelt, auch von Präsident Gitanas Nausėda. Beim Nato-Rat saß er am Tisch zwischen US-Präsident Joe Biden, Premier Rishi Sunak und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
IMAGO/Javad Parsa

Das Wichtigste: Die Nato hält mehr als dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges einen realen Krieg mit Russland wieder für möglich. Es wird als realistisch angenommen, dass das Bündnisgebiet angegriffen werden könnte, sei es an der Nordflanke rund um das Baltikum, sei es in der Schwarzmeerregion.

Dementsprechend wird die gesamte Verteidigungsstruktur auf den Prüfstand gestellt und umstrukturiert. "Defense and deterrence", das sind die zwei Schlüsselwörter, die dafür stehen: Verteidigung des eigenen Bündnisgebietes, "jedes Zentimeters", wie US-Präsident Joe Biden immer wieder betonte, und Abschreckung. Nukleare Abschreckung. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden die militärischen Strukturen deutlich abgebaut. Man glaubte lange an eine friedliche Koexistenz mit Russland.

Nun wird die Sicherheit im Bündnis wieder gegen Russland strukturiert. Das geht hin bis zu so banalen Fragen, ob gewisse Straßen und Brücken in Rumänien für Transporte schwerster Panzer geeignet sind oder nicht.

Der Frost des neuen kalten Krieges

Seit den 1990er-Jahren und den Beitritten der osteuropäischen Länder zu EU und Nato war auch vereinbart, dass die Nato keine ständigen Truppen an den Ostgrenzen stationiert. Das wurde 2014 nach der Annexion der Krim erstmals aufgeweicht. Nun werden die bisher kleinen Bataillone von Estland bis Bulgarien auf Brigadestärke von 5000 Personen erhöht.

Litauen, eine ehemalige baltische Sowjetrepublik, wo der Gipfel stattfand, steht geradezu als Symbol dafür, worum es derzeit geht. Die Wahl des Tagungsortes war kein Zufall. Das kleine Land, das sich 1990 für unabhängig erklärte und das Zerbröseln der Sowjetunion einläutete, ist zwischen Moskaus treuem Partner Belarus im Osten und der russischen Enklave Kaliningrad an der Ostsee eingeklemmt. Vilnius ist von der belarussischen Grenze nur gut 30 Kilometer entfernt.

In dieser Region, nicht weit weg von Putins Heimatstadt St. Petersburg in Russland, wird die neue Konfrontation, der neue kalte Krieg unter anderen Vorzeichen, spürbar.

Die Freunde aus Asien

Die Erklärung von Vilnius spiegelt diesen Geist. Sie sagt, dass die Nato mit ihren Partnern rund um den Globus – neuerdings Staaten aus dem indo-asiatischen Raum wie Japan und Korea – im Einklang mit der UN-Charta den Krieg gegen die Ukraine und die Einnahme von Gebieten inklusive der Krim niemals akzeptieren wird.

Ein Beitritt der Ukraine ist kein Thema, solange der Krieg weitergeht. Aber die Nato-Partner werden durch Waffenlieferungen und umfangreiche sonstige Hilfen an Kiew alles unternehmen, damit das Land sich verteidigen und befreien kann.

Wolodymyr Selensky, seine Frau Olena Selenska und Litauens Präsident Gitanas Nausėda.
Vor dem Gipfel trat der ukrainische Präsident auch in Litauen auf, neben ihm seine Frau Olena Selenska und Litauens Präsident Gitanas Nausėda.
AP/Pavel Golovkin

Untermauert wird das durch eine Sicherheitsgarantie der G7-Staaten, die sich am Rande des Nato-Rates in Vilnius zusammensetzten: USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien; Japan war als neuer strategischer Nato-Partner durch Premierminister Fumio Kishida vor Ort.

Unsicherheit auf der gegnerischen Seite, gar Chaos rund um Präsident Wladimir Putin nach sechzehn Monaten eines ins Stocken geratenen Abnützungskrieges gegen die Ukraine, das wäre für die Nato vor diesem Hintergrund natürlich ein gutes Zeichen. Wenn der höchstrangige Militär Waleri Gerassimow unter Druck steht, so wie auch sein Chef, Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dann scheint ein gröberer Umbau in Gang zu sein.

Überlegungen, dass diese Einbrüche im Regime Putins möglicherweise Raum für Verhandlungen über einen Waffenstillstand schaffen könnten, spielten beim Nato-Gipfel keine Rolle, zumindest nicht öffentlich.

Die Türe für Kiew ist halboffen

Die offizielle Linie bleibt unverändert: Erst müsse Russland den Krieg beenden und sich aus der Ukraine vollständig zurückziehen. Erst dann – im Frieden – werde man über das weitere Vorgehen und die Zukunft der Ukraine zu verhandeln bereit sein. Putin kann nicht damit rechnen, dass der Westen, die Allianz zu einem Deal bereit ist. Alle Entscheidungen zur Zukunft der Ukraine lägen in der Hand der Regierung in Kiew.

Ganz friktionsfrei verliefen die Gespräche der Staats- und Regierungschefs beim zweitägigen Treffen nicht. So musste der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von US-Präsident Joe Biden erst diplomatisch "bearbeitet" werden, ehe er seinen Widerstand gegen den Bündnisbeitritt Schwedens aufgab.

Noch umstrittener war jedoch der Wunsch der Ukraine, noch in Vilnius eine Einladung zu einem Beitritt zur Allianz zu bekommen. Die Chefinnen und Chefs der Regierungen der Allianz waren sich zunächst nicht einig, wie sie mit dem Beitrittswunsch der Ukraine umgehen sollten. Die Osteuropäer drängten darauf, sie einzuladen. Biden und der deutsche Kanzler Olaf Scholz waren strikt dagegen. Am Ende blieb: keine Einladung, kein Nato-Beitritt der Ukraine, solange Krieg herrscht. Aber dafür Ausbau der Waffenlieferungen auf bilateraler Ebene und Einrichtung eines Nato-Ukraine-Rates, eine schrittweise Integration.

Präsident Wolodymyr Selenskyj war bereits am ersten Tag als "Stargast" zu einem Abendessen mit seinen Kollegen angereist. Davor absolvierte er einen überraschenden öffentlichen Auftritt auf einer Bühne mitten in Vilnius nahe dem Parlament und wurde von tausenden Menschen begeistert gefeiert.

Danken statt Schimpfen

Erst am zweiten Tag saß er dann am Tisch im Nato-Rat, zwischen Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Hatte er bei seiner Ankunft noch geschimpft, wie "absurd" und "unentschlossen" es sei, seinem Land den Beitritt zu verweigern, gab er sich am Ende diplomatisch und sogar froh über die "wichtigen Signale", die von dem Treffen ausgingen.

Die Formel: Ein Land im Kriegszustand könne nicht Mitglied der Allianz werden, weil das sofort den Bündnisfall nach Artikel 5, die Beistandspflicht, auslösen würde. Die Nato wäre dann direkt im Krieg, was sie seit eineinhalb Jahren unbedingt vermeiden will.

Die Hilfen aber werden erhöht. Scholz legte zum Beispiel für Deutschland ein militärisches Hilfspaket für Kiew im Umfang von 700 Millionen Euro auf den Tisch. Damit werden Panzer, Artillerie, Munition und vor allem Luftabwehrsysteme Patriot finanziert.

F-16 womöglich im Anflug

Ein anderes Beispiel, das in den nächsten Monaten an Bedeutung gewinnen dürfte: Dänemark und die Niederlande kündigten an, "ab sofort" ukrainische Piloten auf F-16-Kampfflugzeugen auszubilden, so wie das die Briten seit längerem tun. Dass Lieferungen folgen, liegt zumindest sehr nahe.

Auch wenn es dem ukrainischen Präsidenten naturgemäß nicht schnell genug gehen kann, "weil wir um unser Leben kämpfen": Die Nato-Staaten erhöhen ihr Engagement, im eigenen Bündnisgebiet – und für die Ukraine.

Um Wolodymyr Selenskyj drehte sich in Vilnius (fast) alles: Nach seiner Ankunft hielt er öffentlich eine Rede, von Tausenden bejubelt, auch von Präsident Gitanas Nausėda. Beim Nato-Rat saß er am Tisch zwischen US-Präsident Joe Biden, Premier Rishi Sunak und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. (Thomas Mayer, 15.7.2023)