Eine Postkarte mit mehreren Motiven: Höllerhansl und seine Frau, sein Wohnhaus, und die Wallfahrtskapelle.
Höllerhansl, Mehrbildkarte, Rachling um 1920.
Josef Moser / Public Domain

Ausgangspunkt für diese Geschichte ist eine alte Familienlegende. Meine Großtante ging einst wegen eines nicht näher bekannten Leidens zu einem Wunderheiler. Sie hatte ein Fläschchen mit ihrem Urin im Gepäck, das sie per Bahn von Graz aus ins weststeirische Stainz brachte, um es von einem Mann namens Johann Reinbacher begutachten zu lassen. Um den weststeirischen Autodidakten, der heute vor allem unter dem Namen Höllerhansl bekannt ist, ranken sich unzählige Geschichten, von den aufsehenerregenden Gerichtsverfahren wegen Kurpfuscherei bis hin zu Zeitzeugenberichten von gehorteten Geldschätzen. Die per Dampflok betriebene Schmalspurbahn wurde wegen der vielen Urinflaschen "Flascherlzug" genannt. Sie ist heute eine Touristenattraktion. Doch der Titel des "Bauerndoktors", den Reinbacher bei Einheimischen trägt, ist irreführend. Seine Methode lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen.

Reinbacher interessierte sich schon als Kind für Bücher über Arzneimittel und Kräuter, eine Leidenschaft, die ihm in die Wiege gelegt wurde. Auch sein Vater hatte ein Faible für Medizin, wobei sich sein Verständnis davon nicht mit der damaligen Lehrmeinung deckte. Josef Reinbacher war wegen "Kurpfuscherei" im Gefängnis. Das Interesse von Reinbacher junior war gepaart mit einer tiefen Frömmigkeit, die ihn zum Eintritt in den in Graz ansässigen Karmeliterorden veranlasste. Dort hielt es ihn allerdings nicht, bereits ein Jahr später kehrte er zurück.

Ein Gelehrter begutachtet eine Flasche mit Urin im Kerzenlicht
Ein Urinbeschauer in einem Ölgemälde von Trophime Bigot aus dem 17. Jahrhundert.
Gemeinfrei

Die Kunst der Urinbeschau

Sein Heimathaus befand sich in Rachling, einem kleinen Ort nahe dem weststeirischen Stainz. Dort war er erst einmal damit beschäftigt, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Er eröffnete eine Greißlerei und heiratete 1911. Die Genehmigung, ein Gasthaus zu eröffnen, wurde den beiden allerdings verwehrt. Reinbachers Vater hatte noch illegal Getränke ausgeschenkt. Nach einem kurzen Intermezzo im Militärdienst während des Ersten Weltkriegs begann Reinbachers Karriere als "Doktor".

Seine Patientinnen und Patienten brachten in Fläschchen Proben ihres Urins mit, den Reinbacher auf seine Färbung, aber auch auf seinen Geruch untersuchte. Die Praxis, der er folgte, ist zum ersten Mal in Mesopotamien und Ägypten dokumentiert. Der Harn sollte Auskunft über Krankheiten, aber auch über Charakter oder bei Schwangeren sogar über das Geschlecht des Ungeborenen geben. Farbkarten erleichterten den Vergleich, doch auch Geruch und sogar Geschmack waren wichtig. So kam etwa die "Zuckerkrankheit" Diabetes mellitus zu ihrem Namen "honigsüßer Durchfluss". Reinbacher lernte die Techniken nach eigenen Angaben aus einem 300 Jahre alten Buch.

Der Musiker Sepp Engelbogen präsentiert ein bekanntes Volkslied über den "Wunderdoktor" vor Originalschauplätzen.
SEMS2011

Prozesse wegen Kurpfuscherei

Es war letztlich eine Frage der Zeit, bis es ihm wie seinem Vater erging. 1920 wurde er zum ersten Mal wegen Kurpfuscherei angeklagt. Der erste Prozess fand in Stainz statt, der zweite ein Jahr später in Graz. Das "Neue Grazer Abendblatt" berichtet von der ungewöhnlichen Verhandlung, zu der sich eine Heerschaar von Anhängerinnen und Anhängern Reinbachers einfand. Nur unter Schwierigkeiten habe er sich seinen Weg durch die "Geheilten" zur Anklagebank bahnen können. Verlesene Zeugenaussagen berichteten über Fälle scheinbar unheilbarer Krankheiten, bei denen zwanzig Jahre lang alle medizinischen Behandlungen versagt hätten, bis der Höllerhansl Linderung gebracht hätte. Doch nicht immer hatte das funktioniert. Vor Gericht kam die Geschichte einer Frau zur Sprache, die dem Heiltee des Wunderdoktors erlegen sein soll. Nachweisen ließ sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Tod und Tee allerdings nicht.

Reinbacher wurde am Ende zu einer Geldstrafe von 10.000 Kronen und einem Monat Arrest verurteilt, weil er ohne Ausbildung gewerbsmäßig als Mediziner praktiziert hätte. Zwar arbeitete Reinbacher offiziell nie für Geld, doch für die Heiltees aus Kräutern waren Spenden üblich. Allein seine letzte Steuerrechnung betrug 37.000 Kronen. Beim Auszug aus dem Gericht hob man ihn auf die Schultern und trug ihn durch die Gassen. Als die Menge mit Verspätung von der Verurteilung erfuhr, konnte sie nur mit Mühe von einer Rückkehr ins Gerichtsgebäude abgehalten werden. Der Arrest ließ sich später durch eine Berufung verhindern.

Der Popularität des Höllerhansl nutzten diese Prozesse. Seine Kunst sprach sich herum, und auch internationales Publikum fand den Weg zu ihm. Der Flascherlzug brachte sie allerdings nicht bis nach Rachling. Die letzte Etappe zum Haus des Heilers führte über einen steilen Hohlweg. Dieser Fußmarsch war Teil der Behandlung, Reinbacher erklärte, dass bei der Wanderung die "Wind" abgingen. Als Reinbacher beschloss, in Rachling eine Kirche zu errichten, ließ er die Ziegel am unteren Ende des Hohlwegs aufschlichten. Wer zu ihm wollte, musste einen Ziegelstein mitbringen.

Der Name "Flascherlzug" hat sich durchgesetzt. Zwischenzeitlich war versucht worden, ihn in "Teezug" umzubenennen.
Kleindl

Zwei Prinzessinnen

Mehrere Hundert Personen waren es zu Spitzenzeiten, die täglich den Weg auf den Berg auf sich nahmen. Als Medizin erhielten die Heilsuchenden Tees mit Salbei, Eibisch und Fenchel, die in Kesseln im Keller bereitstanden, vor dessen Tür Reinbacher seine Urinbeschau durchführte. Das Sammeln der Kräuter übernahmen eigens dafür angestellte "Kräuterweiber". Legendär ist auch der Besuch eines indischen Maharadschas aus Dharampur sowie der zweier ägyptischer Prinzessinnen. Noch als bettlägeriger alter Mann praktizierte Reinbacher, der seiner Berufung treu blieb und sich nie selbst bereicherte, aber für die Region ein entscheidender Wirtschaftsfaktor war, mit eigenen Busunternehmen, um den überfüllten Flascherlzug zu entlasten. Allerdings wird von Kisten voller Kleingeld berichtet, das er so lange hortete, bis es wertlos geworden war. 1935 starb Reinbacher. Er gilt als einer der letzten dokumentierten Urinbeschauer.

Meine Großtante, die als junge Frau bei ihm war, zeigte sich letztlich nicht überzeugt von der Behandlung. Er habe den Urin begutachtet, über Allgemeines gesprochen und sie dann mit einem Tee fortgeschickt. (Reinhard Kleindl, 25.7.2023)