Eine junge Frau spricht in die Kamera. "Gang gang, Ice-cream so good." Sie leckt an einer imaginären Eiskugel und knurrt, während sie mit einem Haarglätter einzelne Maiskörner zu Popcorn macht. Für Tiktok-unerfahrene Zuseher mag das befremdlich wirken. Doch aktuell begeistert die Contentmacherin "Pinkydoll" viele Zuseher genau damit. Ihr bürgerlicher Name ist Fedha Sinon, sie ist 27 Jahre alt, hat einen Sohn und lebt in Kanada. In der Vergangenheit war sie als Stripperin tätig und betrieb einst auch eine Reinigungsfirma. Neben dem Account auf Tiktok pflegt sie auch eine Reihe weiterer Social-Media-Auftritte. Einen davon auf der Plattform Onlyfans, für den sie mit expliziten Inhalten wirbt.

Was sie in Liveübertragungen vor der Kamera tut, ergibt nur Sinn im Kontext der Plattform und des Chats. Dort schicken ihr Nutzer virtuelle Geschenke – etwa Essen oder Ballons –, auf die sie reagiert, als wäre sie ein Roboter. Bezahlt werden die digitalen Goodies mit Tiktok Diamonds, die Nutzer sich zuvor gegen Echtgeld kaufen müssen. Ein Teil davon landet dann bei den Videomachern. Ein Unikum ist Pinkydoll damit nicht, auch andere Creatos wie "Cherry Crush" verdienen auf diese Weise Geld und ziehen hunderttausende Follower an.

Was sie vor der Kamera machen, wird öfter als "NPCing" bezeichnet. Darunter versteht man hier und vereinfacht gesagt das Nachstellen eines Computercharakters aus einem Videospiel. In zahlreichen Clips simuliert Pinkydoll etwa Figuren, die man in der bekannten Spielereihe "Grand Theft Auto" antrifft. "NPC-Livestreaming", bei dem die Macherinnen und Macher sich verhalten wie eine Computerfigur, hat sich fest auf Tiktok etabliert und dient selbst bereits für Memes und Remixes.

Alter Begriff, neue Bedeutung

Der Begriff des NPCings ist allerdings deutlich älter und kommt eigentlich aus der Welt der Rollenspiele. Die Abkürzung steht für "Non-Player Character", also eine nicht von den eigentlichen Spielern gesteuerte Figur. In deren Rolle schlüpft in Pen & Paper- und Tabletop-Spielen im Regelfall der Spielleiter.

Häufig handelt es sich bei den Figuren um Händler, Persönlichkeiten aus der Handlung des Abenteuers oder Gegner der Helden. Grundsätzlich können aber auch "einfache" und für den Verlauf der Ereignisse nicht weiter bedeutende Bewohner der Umgebung als NPCs auftauchen. In LARPs, Live-Action-Rollenspielen in realen Umgebungen, schlüpfen Freiwillige in die Rolle der NPCs.

Mit dem Einzug von Rollenspielen am Computer begann aber auch die Faszination für die digitalen NPCs, die auch in modernen Games häufig noch einfachen Handlungsmustern folgen. Manche Umsetzungen entfalteten dabei großes Meme-Potenzial. Bekannt sind etwa Stadtwachen aus "Skyrim", die dem Spieler ausrichten, dass auch sie einmal ein Abenteurer waren, bis sie von einem Pfeil ins Knie getroffen wurden. Gerne aufs Korn genommen werden auch eigenwillige Animationen und Probleme bei der Wegfindung.

College where all the students are Skyrim NPC's (Parts 1-4)
Strave

NPCs als Teil der Netzkultur

Unter der Bezeichnung "Real Life NPCs" kursieren wiederum Aufnahmen im Netz, die Personen zeigen, deren Verhalten im echten Leben in jenem Moment an eine computergesteuerte Figur erinnert. Projekte wie "Viva La Dirt League" wiederum versuchen in ihren Clips humoristisch auch die Sichtweise von NPCs einzunehmen und zu zeigen, wie es ihnen etwa ergeht, wenn eine vom Spieler gesteuerte Figur vor ihnen "AFK" („Away From Keyboard“) geht – also eine Spielpause einlegt.

Nicht vergessen darf man in diesem Kontext auch das Phänomen des Cosplaying. Hier verkleiden sich Menschen teils aufwendig als Charaktere aus Filmen, Comics, Büchern und Videospielen. Meist handelt es sich dabei um die Helden des jeweiligen Titels, aber immer wieder auch einprägsamere NPCs. Der Hintergrund ist meist künstlerischer oder harmloserer Natur, etwa für Social-Media-Auftritte und den Besuch von Conventions. Immer wieder findet Cosplay aber auch als Fantasieerfüllung im Kontext von Erotik und Pornografie statt. Faszination und Fetisch liegen nahe beinander.

What going AFK looks like
Viva La Dirt League

Unterhaltung mit sexistischem Unterton?

Doch zurück zu Pinkydoll. Über ihre Livestreams scheiden sich die Geister. Ihre Abonnenten sind offenbar gut unterhalten und investieren fleißig Geld in virtuelle Zuwendungen. Ebenso wird argumentiert, dass sie sich mit einer selbstgewählten Tätigkeit ihre Unabhängigkeit sichert.

Kritik wiederum gibt es nicht nur am von manchen als "nervig" wahrgenommenen Stil der Unterhaltung. Der Contentmacherin wird vorgeworfen, zur Objektifizierung von Frauen beizutragen, da sie sich als willenloser Roboter präsentiert, der einfach nur tut, was das Publikum möchte.

Das zumindest erscheint aber vereinbar zu sein, wenn es darum geht, einen NPC zu mimen. Denn die meisten computergesteuerten Charaktere in Spielen, wenn es nicht gerade Gegner sind, nehmen rein reaktive Rollen ein. Dieser Umstand schadet zwar mitunter der Immersion, ist aber oft im Sinne des Games.

Wer möchte schon beim Durchqueren des mittelalterlichen Marktes auf Schritt und Tritt von Verkäufern behelligt werden oder mit dem digitalen Kampfgefährten erst lange Diskussionen über die nächsten Schritte führen. Ob man als Mensch eine solche Rolle, wenn auch nur simuliert, einnehmen sollte, bleibt freilich dem Publikum überlassen. (gpi, 17.7.2023)

Update, 20.7.: Mittlerweile wurden mehr Informationen über "Pinkydoll" bekannt, die Einleitung wurde entsprechend aktualisiert.