Ararat Mirsojan kommt von rechts ins Bild und blickt in die Kamera.
Ararat Mirsojan warnt vor einer humanitären Katastrophe.
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Der Dauerkonflikt zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach harrt weiter einer Lösung. Die aus UN-Sicht zu Aserbaidschan gehörende Region wird hauptsächlich von Armeniern bewohnt. Immer wieder kommt es zu Gewalt. Ein erneutes Aufflammen der Kämpfe 2020 forderte mehr als 6.500 Tote. Der damals von Moskau vermittelte Waffenstillstand ist brüchig. Russland, das traditionell als Schutzmacht Armeniens gilt, bündelt viele Kräfte für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zudem ist Russland auch an guten Beziehungen mit Aserbaidschan interessiert, das seinerseits von der Türkei protegiert wird.

STANDARD: Am Samstag gab es in Brüssel einmal mehr Friedensgespräche zwischen Armenien und Aserbaidschan. Was ist für Sie der wichtigste Punkt in den Verhandlungen?

Mirsojan: Beide Länder können ihre Beziehungen nicht normalisieren, ohne die Sicherheit und die Rechte der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach zu berücksichtigen. Aserbaidschan sprach immer wieder von armenischen Territorialforderungen. Aber für uns geht es um die Sicherheit und die Grundrechte der Menschen vor Ort.

STANDARD: Zuletzt gab es Nachrichten von der Blockade des Latschin-Korridors, einer wichtigen Verkehrsverbindung nach Bergkarabach. Wie ist dort aktuell die Lage?

Mirsojan: Der Latschin-Korridor ist die einzige Lebensader, die Bergkarabach mit Armenien und dem Rest der Welt verbindet. Er wurde bereits vor sieben Monaten geschlossen – illegal und entgegen dem Waffenstillstandsabkommen vom November 2020. Trotzdem konnten das Internationale Rote Kreuz und die dort stationierten russischen Friedenstruppen wenigstens einige Nahrungsmittel und Medikamente nach Bergkarabach bringen. Seit einem Monat aber ist der Korridor völlig blockiert. Nichts kommt mehr durch. Eigentlich steht Bergkarabach unter Belagerung.

STANDARD: Sehen Sie einen Ausweg?

Mirsojan: Die humanitäre Situation ist sehr schwierig, wir sind nahe an einer humanitären Katastrophe. Es wäre also höchste Zeit für konkrete internationale Hilfe.

STANDARD: Viele internationale Akteure wollen vermitteln: die EU, die USA und auch Russland. Aber alle verfolgen auch eigene Interessen. Sehen Sie das immer als Unterstützung, oder fühlen Sie sich manchmal auch unter Druck gesetzt?

Mirsojan: Der Prozess hat zwei Dimensionen: die politische, nach der Sie jetzt fragen, und die humanitäre. Ich würde diese beiden Aspekte trennen. Zuerst brauchen wir eine sofortige humanitäre Intervention, damit 120.000 Menschen nicht verhungern. Danach können wir mit allen weiterverhandeln, die an dauerhaftem Frieden in der Region interessiert sind.

STANDARD: Was ist die Voraussetzung für dauerhaften Frieden?

Mirsojan: Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht in den nächsten Teufelskreis der Feindschaft geraten. Blutvergießen hatten wir im Südkaukasus genug. Zentral wäre daher die gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität. Wichtig ist auch die Öffnung der regionalen Transportinfrastruktur. Und was die bereits angesprochene Frage von Sicherheit und Rechten für die Armenier in Bergkarabach betrifft: Wir glauben, der beste Mechanismus dafür wäre ein Dialog mit internationaler Beteiligung.

STANDARD: Nach dem von Russland vermittelten Waffenstillstand von 2020 ist Premier Nikol Paschinjan stark unter Druck geraten. Viele sahen die Vereinbarung als Kapitulation, es gab teilweise gewalttätige Proteste. Wie ist die Stimmung in Armenien heute?

Mirsojan: Ja, es gab damals eine ernste Krise. Radikale Kräfte haben sich unter die Organisatoren gemischt, es gab Angriffe auf Regierungsgebäude. Auch ich selbst wurde attackiert, ich war Parlamentspräsident. Wir haben also beschlossen, das Volk zu befragen. So funktioniert Demokratie. Die wichtigsten Wahlkampfthemen waren Paschinjans Friedensagenda sowie die Frage, ob Armenien seine demokratischen Reformen fortsetzen soll. Trotz aller Komplikationen hat die Regierungspartei dann in freien und fairen Wahlen gewonnen. Natürlich gibt es auch heute noch Kritik an der Regierung, das ist ja auch gesund. Die Krise von damals aber ist vorbei.

STANDARD: Inwieweit hat sich seither das Verhältnis Armeniens zu Russland verändert? Ihr Land ist immerhin Mitglied in der von Moskau angeführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).

Mirsojan: Wenn man die Debatten in Armeniens Gesellschaft verfolgt, dann kann man große Frustration sehen über das Vorgehen der russischen Friedenstruppen in Bergkarabach und über die russischen Reaktionen auf Aserbaidschans Vorstöße auf armenisches Territorium. Wir haben uns an die OVKS gewandt, und es gab eine Monitoring-Mission, angeführt von deren Generalsekretär. Aber wir haben uns mehr erwartet. Das ist kein Geheimnis. (Gerald Schubert, 20.7.2023)