In Hollywood streiken Drehbuchautorinnen und Schauspieler, Sky streicht seine Fictionproduktionen, Disney kürzt Megaproduktionen, Paramount verhandelt mit Kreditgebern. Der vielmilliardenschwere Streamingboom scheint erst einmal gestoppt. "Wir steuern auf ein schmaleres, überschaubareres Angebot zu - was auch gesund sein kann", sagt die deutsche Schriftstellerin und Drehbuchautorin Annette Hess im STANDARD-Interview: "Das Ganze ist in Wahrheit ein Schneeballsystem gewesen, wir haben uns alle dem Rausch der Goldgräberstimmung hingegeben."

Hess wurde bekannt durch ihre Fernsehserien "Weissensee", "Ku'damm 56" und "Ku'damm 59". 2018 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Deutsches Haus". Die Geschichte einer jungen Dolmetscherin bei den Auschwitz-Prozessen, eine Geschichte deutschen Umgangs mit der eigenen NS-Vergangenheit, kommt als Serie Ende 2023 bei Disney+ auf den Schirm. Beim Salzburg Media Summit am 28. Juli diskutiert Hess auf dem Podium über Strategien für Streaming, Kino und Fernsehen.

Drehbuchautorin und Schriftstellerin Annette Hess
"Ich finde schon interessant, dass das nicht mal jemand durchgerechnet hat": Autorin Annette Hess über den Serienboom der vergangenen Jahre.
@ferrancasanova

"Netflix erschlägt mich mit seinem Angebot"

STANDARD: Man weiß in diesen Tagen voller Hollywoodstreiks und gestrichener Fictionproduktionen von Disney bis Sky gar nicht, wo man anfangen soll. Sind die fetten Jahre in der Streaming- und TV-Branche vorbei?

Hess: Es sieht ganz so aus. Es ist schon ein geflügeltes Wort, dass die Serienblase geplatzt ist. Über die Produktionsvolumina für Serien der letzten Jahre hatte ich schon vor fünf Jahren meine Bedenken: Für wen wird das denn um Gottes willen alles produziert, wer soll das denn sehen? Ich als Konsumentin nehme das schon so wahr. Ich gehe nicht mehr auf Netflix, weil es mich erschlägt mit seinem Angebot. Ich schaue nur noch Dokus und keine Fiction mehr. Und so geht es vielen anderen vermutlich auch.

STANDARD: Da geht es ja nicht alleine ums Sehen, sondern auch darum, wer das alles bezahlen soll.

Hess: Natürlich, das hängt ja unmittelbar zusammen. Wir alle haben seit Jahren dieses Pferd geritten, solange es ging, jetzt ist es zusammengebrochen. Es ist nicht mein Job, ich bin ja keine Produzentin. Aber ich finde schon interessant, dass das nicht mal jemand durchgerechnet hat. Wo kommt das ganze Geld her, das da reingepumpt wird, und wie soll da ein Gewinn herauskommen? Das Ganze ist in Wahrheit ein Schneeballsystem gewesen, und dieser Elefant stand schon lange im Raum. Sonst wird ja in der Branche alles akribisch abgesichert und durchkalkuliert. Aber hier haben wir uns alle dem Rausch der Goldgräberstimmung hingegeben. Das wiederum finde ich rührend und menschlich.

"Der Markt wird sich regulieren"

STANDARD: Wir werden am 28. Juli beim Salzburg Media Summit über eine Neudefinition von Inhalten, "Redefining Content", in dieser Situation reden. Wie kann diese Neudefinition denn aus Ihrer Sicht aussehen?

Hess: Der Markt wird sich regulieren. Das dauert so drei, vier Jahre. Vor einem Jahr haben wir meine Serie "Deutsches Haus" gedreht. Da war es noch wahnsinnig schwierig, einen Beleuchter zu finden. Alle waren schwer beschäftigt. Da hieß es: "Ruf in zwei Jahren wieder an." Jetzt kann man wieder anrufen.

STANDARD: An der nun geplatzten Blase hängen Existenzen von Kabelträger bis Regisseurin.

Hess: Das ist bitter für alle Gewerke. Die etablierten Autorinnen und Autoren müssen sich aus meiner Sicht noch keine existenziellen Sorgen machen, die bekommen weiter ihre Aufträge. Es wird deutlich weniger produziert, aber es wird ja noch produziert. Aber die Berufsanfänger werden es schwer haben. Und viele haben in den letzten Jahren an Serienkonzeptionen gearbeitet, mit der großen Hoffnung, einen Coup zu landen. Das war ein Stück weit umsonst, und es herrscht großer Frust. Auch bedingt durch die massive Absagewelle der letzten Monate – die noch lange nicht abgeebbt ist.

"Jetzt kehren die verlorenen Söhne und Töchter zurück zu diesen Mainstream-Formaten."

STANDARD: Was raten Sie den Kolleginnen und Kollegen?

Hess: Ich kann ihnen nur raten, auf lang laufende Formate, etwa solche der Öffentlich-Rechtlichen, zu gehen, um die Existenz zu sichern. Also Serien, Daylies oder Weeklys wie "In aller Freundschaft" zu schreiben – wo ich übrigens angefangen habe. Früher wollten alle fürs Kino schreiben, heute wollen alle ihre eigene Serie kreieren und sind sich zu schade für Unterhaltung. Das rächt sich jetzt. Jetzt kehren die verlorenen Söhne und Töchter zurück zu diesen Mainstream-Formaten.

STANDARD: Die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sender als letzte Hoffnung der Fictionproduktion in Europa, im deutschsprachigen Raum?

Hess: Grundsätzlich ja, aber auch ARD und ZDF fahren massiv runter. Deren Sparpläne sind beängstigend - als erstes geht es auch hier der Fiction an den Kragen. Da werden Neunzigminüter eingestrichen, "Sokos" werden jetzt ausgesiebt. Aber bei den Öffentlich-Rechtlichen gibt es immerhin noch gewisse Faktoren der Verlässlichkeit. Serien und Reihen, die zuverlässig gedreht werden, und so ein Honorar kann die Miete sichern. Bei den Streamern gibt es dagegen wenig Verlässlichkeit. Ich als Ernährerin einer Familie könnte da niemals alleine drauf setzen.

"Wir steuern auf ein schmaleres, überschaubareres Angebot zu – was auch gesund sein kann."

STANDARD: Wie kommen wir da raus? Das klingt alles nicht sehr hoffnungsvoll.

Hess: Wir steuern auf ein schmaleres, überschaubareres Angebot zu – was auch gesund sein kann. Wenn Sie in einen Supermarkt gehen und 16 Regalmeter für Haarpflegeprodukte sehen, sind Sie ebenso überfordert wie mit dem Serienangebot der vergangenen Jahre. Wir sind übersättigt. Und ich hoffe, wir finden durch Reduktion zu neuer Qualität. Es wird natürlich auch viele günstige Web-Serien geben, die nicht viel kosten, aber auch weiterhin die großen, fetten Leuchtturmproduktionen mit über 20 Millionen Euro Budget. Davon aber statt 30 nur noch fünf im Jahr. Daran beteiligt zu sein ist dann ein seltener Glücksfall.

STANDARD: In Hollywood streiken gerade Drehbuchautorinnen und Schauspieler und legen damit den Output lahm. Kann Europa davon profitieren?

Hess: Das würde niemand so offen äußern. Aber ich habe mich auch schon bei dem Gedanken ertappt: Wenn meine Serie "Deutsches Haus" bei Disney+ herauskommt, könnte es weniger Konkurrenz geben. Doch wir sind in erster Linie solidarisch. Der Deutsche Drehbuchverband DDV hat demonstriert, in Berlin und Köln; wir sind keine Gewerkschaft, wir können nicht streiken, aber es gibt die Diskussion, ob wir uns dranhängen. Es gibt gerade viele große Themen, für die es zu streiken lohnt.

STANDARD: Eines dieser großen Themen ist künstliche Intelligenz. Wie sehen Sie diese Bedrohung, diese Sorge von Kreativen?

Hess: Mir macht das keine Angst. Ich kenne viele Autorinnen und Autoren, die formatiert schreiben und nicht besonders gut dafür bezahlt werden. Was wäre da der Bonus der KI? Künstliche Intelligenz wird vor allem dafür genutzt, uns Autorinnen und Autoren von Branchenpartnern wieder einmal weiszumachen: Wir brauchen euch eigentlich gar nicht. Um uns unsere angebliche Bedeutungslosigkeit zu vermitteln, unsere Austauschbarkeit – früher wurden wir untereinander ausgetauscht, nun gegen KI.

"Ich bilde mir ein, dass man die Seelenlosigkeit der KI wahrnimmt."

STANDARD: Menschen schlecht zu bezahlen kann noch immer teurer sein, als eine KI zu füttern.

Hess: Ich bilde mir aber ein, dass man die Seelenlosigkeit wahrnimmt. Ich habe ChatGPT aufgefordert, einen Liedtext im Stil von Till Lindemann zum Thema Bauernopfer zu schreiben. Antwort: "Sowas machen wir hier nicht. Wir gehen respektvoll miteinander um." Das Ding kann keinen Dreck, keinen Sex, keine Unkorrektheit, nichts Gefährliches. Widersprüchlichkeit und Doppelbödigkeit – alles, was Geschichten aufregend macht, kann KI nicht. Aber das wollen die Leute sehen, das wird gebinged. Deshalb wird uns das als Geschichtenerzähler nicht ersetzen. Schwieriger wird es in anderen Bereichen, wo es anfängt, wirklich etwas zu kosten: Settings, Schauspielerinnen, Schauspieler, Stimmen. Ich habe gestern "Barbie World" im Stil von Johnny Cash gesungen gehört. Das war ziemlich überzeugend.

STANDARD: Vielleicht ist doch ein bisschen Sorge angebracht?

Hess: Ich habe auch ausprobiert: Schreib ein Exposé im Stil von Annette Hess. Das war wirklich drollig. Spielte in den 1960er-Jahren, ging um eine Frau, die unbedingt Anwältin werden will, das aber nicht darf. Doch wenn es auf die Frage kam: Worum geht es denn eigentlich, hatte diese Person "ein Geheimnis". Es war unkonkret. Auch zeigte sich kein tieferer Sinn. KI ist ein Banalitätenbomber. Eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende hat ja auch noch keine Kraft, keine Relevanz, die eine gute Geschichte ausmacht. Es braucht neben lebendigen Figuren eine Spiegelung zum Heute, an die man anknüpfen kann. Ich glaube, man kann auch nicht lehren, gute Geschichten zu erzählen. Das kann man oder kann man nicht.

STANDARD: Sie haben die Initiative "Kontrakt 18" mitbegründet, die sehr selbstbewusste Forderungen zur Stellung der Autorinnen und Autoren im Produktionsprozess hatte. Nun fusionierte "Kontrakt 18" mit dem deutschen Drehbuchverband – was wurde aus den Forderungen?

Hess: Kontrakt 18 ist mit seinen sechs Punkten vor fünf Jahren in der Branche eingeschlagen wie eine Bombe: Wir lassen es uns nicht mehr gefallen, dass mit unserer kreativen Arbeit, mit unseren Büchern verfahren wird, wie jeder lustig ist. Das hat sich inzwischen massiv verändert und verbessert. Selbst in Formaten wie "Notruf Hafenkante". In den standardisierten Verträgen gibt es etwa die Möglichkeit, die Regie mit auszuwählen. Unser Punkt 1 besagt, dass der Autor, die Autorin die Verantwortung für das Buch bis zum Drehbeginn behält. Den Punkt mussten wir oft erklären. Gemeint ist zuallererst, dass wir selbstverständlich die Hoheit über unsere Geschichte und Vision behalten und nicht andere Gewerke plötzlich auch am Buch schreiben dürfen, was wir oft genug erlebt haben. Aber auch in Fällen, wo die Zusammenarbeit nicht gut läuft, setzt man sich gemeinsam hin und sucht nach Lösungen. Ich als Autorin kann dann sagen: Ich kann doch nicht so komisch schreiben, wie ich dachte, wir brauchen jemanden, der komisch schreiben kann, ich habe da den oder die. Das ist mit Verantwortung gemeint: Dass man nicht einfach rausgekickt wird und auf einer Party zufällig erfährt, dass schon ein Kollege weiter am Projekt schreibt. Das ist inzwischen von unseren Partnern verstanden worden.

Das Patriarchat lässt grüßen

STANDARD: Oder man erfährt gleich gar nicht, dass da schon eine KI drübergeht, die eher nicht auf Partys geht.

Hess: Im Drehbuchverband ist das natürlich eine große Diskussion. Fest steht: Wir als Autorinnen und Autoren dürfen uns die Tools zum Geschichtenerzählen nicht aus der Hand nehmen lassen. Die Hoheit darüber müssen wir haben. Und das müssen wir in den Verträgen festhalten. Wir arbeiten mit unseren Juristen an entsprechenden Paragrafen. Verantwortung nach Punkt 1 heißt auch Transparenz, welche Tools verwendet wurden, und das gilt für beide Seiten. Mir hat ein Produzent gerade die Bestätigung in den Vertrag geschrieben, dass ich bei der Bucharbeit keine KI verwende.

STANDARD: Sie fordern neben Vertragsbedingungen auch eine Geschlechterquote für Aufträge an Autorinnen und Autoren. Wie weit ist man da?

Hess: Bei den Autorinnen weiterhin im katastrophalen Bereich. In der Regie funktioniert das schon recht gut, da haben die Quotenforderungen schon gegriffen, beim Schreiben noch immer nicht. Die Aufträge für hochbudgetierte Leuchtturmproduktionen gehen immer noch zu 90 Prozent an männliche Autoren und Creatoren.

STANDARD: Warum ist das so?

Hess: Das Patriarchat lässt grüßen: Einer Frau wird es einfach nicht zugetraut, so ein hohes Budget zu stemmen beziehungsweise eine Geschichte kreiert zu haben, die ein solches Budget rechtfertigt. (Harald Fidler, 25.7.2023)