Im Gastblog erzählt Dorian Schiffer davon, wie das Kunsthistorische Museum vorgeht, um alte Kunstwerke für die Nachwelt zu erhalten.

Gekippt wirkt Paulus plötzlich vorwurfsvoll. Während der weißbärtige Mann, den Rembrandt – oder seine Werkstatt – vor gut dreihundert Jahren als Apostel verewigte, aufrecht ernste Würde ausstrahlt, sieht es jetzt so aus, als hätte ihn die Rotation beim Schreiben aufgeschreckt. Wie kommt Paulus in eine so missliche Lage?

Das Bild Apostel Paulus, für eine wissenschaftliche Untersuchung wurde das Gemälde aus Rembrandts Werkstatt gekippt.
So sieht man den Apostel Paulus sonst nie. Für eine wissenschaftliche Untersuchung wurde das Gemälde aus Rembrandts Werkstatt gekippt.
Silvester Kössler

Die Antwort hat mit dem blauen Kästchen zu tun, das auf elektronischen Schienen knapp vor Rembrandts Meisterwerk entlangfährt. Dabei handelt es sich um eines der unzähligen naturwissenschaftlichen Analyseverfahren, die den Restauratorinnen und Restauratoren des Kunsthistorischen Museums (KHM) dabei helfen, ihre Patienten zu versorgen.

Historische Fehler

Um bei den medizinischen Vergleichen zu bleiben: Das Museum am Wiener Burgring ist keine Ambulanz, sondern eher die Geriatrie. Ägyptische Sarkophage, griechische Vasen, Gemälden von Mittelalter bis Klassizismus – die meisten Objekte haben Jahrhunderte auf dem Buckel. Doch mitunter schädlicher als der Zahn der Zeit waren die Versuche früherer Generationen, die Kunstwerke für die Nachwelt zu erhalten. "Wir beschäftigen uns hauptsächlich mit fälschlichen Restaurierungen, die man heute nicht mehr so nennen würde", sagt Elke Oberthaler.

Wir treffen die Leiterin der Restaurierung der Gemäldegalerie in der Restaurierwerkstatt des KHM, es riecht nach Farben und Lösungsmittel. Auch Oberthaler erklärt ihre Arbeit mit einem Vergleich aus der Medizin: "Stellen Sie sich vor, es würde noch Operierte aus dem Mittelalter geben – da hätten wir viel zu tun."

Restaurier-Werkstätte des KHM
In der Restaurierwerkstätte des KHM warten die Gemälde so mancher alter Meister darauf, für die nächsten Jahre wiederhergestellt zu werden. Dabei ergeben sich wissenschaftliche Fragestellungen.
Silvester Kössler

Die Herausforderung dabei liegt im Schichtaufbau der Gemälde: Über der Grundierung liegt ein Flickwerk aus Vorzeichnungen, Farbschichten, Übermalungen, kleineren und größeren Schäden und Retuschen, die Restauratorinnen und Restauratoren im Lauf der Zeit aufgetragen haben. Überdeckt wird alles vom sogenannten Firnis – unansehnlichen organischen Ablagerungen auf den Gemäldeoberflächen. Sich in diesem Dickicht aus unterschiedlichen Pigmenten und Bindemittel zurechtzufinden, ist schwer. "Wir arbeiten aber so kleinteilig, dass wissentlich nichts beschädigt wird", erklärt Oberthaler. "Und gegen unwissentliche Beschädigungen können wir uns dank des Labors gut absichern."

Gemälde durchleuchten

Im Erdgeschoss, unter den Füßen der Besucherinnen und Besuchern, gleich neben Restaurierung und Mumiendepot, befindet sich das Reich von Martina Griesser. Die Chemikerin leitet eben jenen Ort, den man vielleicht als Letztes in einem Kunstmuseum erwarten würde: das naturwissenschaftliche Labor.

Naturwissenschaftliches Labor im KHM
Als einziges Kunstmuseum in Österreich besitzt das KHM ein naturwissenschaftliches Labor. Martina Griesser und ihr Team gehen hier Fragen rund um Entstehung, Restaurierung und Aufbewahrung von Kunstwerken nach.
Silvester Kössler

Zwischen Stuckatur und Mosaikboden hat sie ab den späten Neunzigern ein Labor mit modernster Ausstattung eingerichtet. "Unsere Aufgabenstellung war von Anfang an die Unterstützung der Restauratorinnen und Restauratoren", erzählt Griesser. "Doch es entstehen auch andere Fragestellungen, etwa zur Herstellungstechnik, dem Erhaltungszustand oder Überarbeitungen."

Dabei kommen bevorzugt zerstörungsfreie Methoden zum Einsatz. Zum Beispiel können Gemälde wie beim Arzt mit Röntgenstrahlen durchleuchtet werden, um etwaigen Vorzeichnungen auf die Schliche zu kommen, wie Griesser erklärt: "Solche Informationen über den Arbeitsprozess sind vor allem für die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker interessant."

Doch auch die Restaurierung profitiert von Durchleuchtungen, weiß Elke Oberthaler: "Mit dem Röntgenbild sehen wir auf den ersten Blick, wo was fehlt." Über die genaue Zusammensetzung der einzelnen Farbschichten erfahren die Restauratorinnen und Restauratoren so allerdings nichts, und müssen sich auf ihr Wissen und ihre Erfahrung verlassen, welche Lösungsmittel und Farben sie gefahrlos einsetzen können, etwa um eine Übermalung vom Original zu trennen.

Naturwissenschaftliches Labor im KHM
Durchleuchtungen sind wertvolle Werkzeuge für die Restaurierung, da Schäden und historische Veränderungen leicht erkannt werden können.
Silvester Kössler

Neuer Blick

Das führt uns zurück zu Rembrandts Paulus, der ohne Rahmen und um neunzig Grad gedreht in einem Raum unweit von Oberthalers Büro hängt – und zu dem sonderbaren blauen Kästchen. "Dabei handelt es sich um ein Gerät zur Röntgenfluoreszenzanalyse", erklärt Katharina Uhlir, die im KHM für dieses Verfahren zuständig ist. Bei einer herkömmlichen Durchleuchtung macht ein spezieller Film die Röntgenstrahlen sichtbar, die es durch ein Objekt schaffen. Wo sie absorbiert werden, bleibt der Film schwarz – und bildet so etwa Knochen ab. Bei der Röntgenfluoreszenzanalyse dagegen sammelt ein Detektor die Strahlen ein, die vom Gemälde zurückkommen.

Naturwissenschaftliches Labor im KHM
Bei der Restaurierung kommen unzählige Chemikalien zum Einsatz. Die Analysen des Labors erlauben es den Fachleuten des KHM, die richtigen Mittel für ihre gemalten Schützlinge auszuwählen.
Silvester Kössler

"Die Materialien in der Oberfläche wechselwirken mit der Röntgenstrahlung, indem Elektronen aus inneren Atomschalen ausgeschlagen werden", erklärt Griesser. "Daraufhin springen Elektronen aus den äußeren Schalen in diese Lücken. Dabei wird auch wieder Röntgenstrahlung freigegeben, die wir detektieren."

Der Clou: "Nachdem Atome eines Elements typische Energieniveaus besitzen, ergeben sich durch diese Sprünge Signale mit unterschiedlichen Energien." Die Analysemethode erlaubt es also, die elementare Zusammensetzung eines Gemäldes zu kartieren – und damit verschiedene Pigmente und Bindemittel aus verschiedenen Epochen der Werkgeschichte zu unterscheiden. Genau diese Prozedur unterzieht sich gerade Paulus: "Das Gerät fährt knapp über die Gemäldeoberfläche und nimmt jeden halben Millimeter ein Spektrum auf", sagt Uhlir. "Dabei vergehen für einen Bildausschnitt schon mal zehn Stunden, und unsere Gemälde sind groß. Wir nehmen also viele Ausschnitte auf und setzen sie am Computer zusammen."

Röntgenaufnahme von einem Bild im KHM
Elke Oberthaler und ihr Kollege tauschen sich über eine Röntgenaufnahme aus. Nach den eigentlichen Scans vergeht viel Zeit bei Nachbearbeitungen am Computer.
Silvester Kössler

Am Ende können die Fachleute einen gänzlich neuen Blick auf die Kunstwerke werfen: Wie die Aufnahmen einer Wärmebildkamera, zeigen verschiedene Farbflächen, wo welche Elemente in der Gemäldeoberfläche stecken – wertvolle Informationen, anhand der sich etwa spätere Retuschen identifizieren lassen.

Proben mit Feinschliff

Dabei gibt es jedoch ein Problem. "Den komplizierten Schichtaufbau der Gemälde können wir zerstörungsfrei von oben nicht aufnehmen. Daher ist es oft notwendig, Proben zu entnehmen", sagt Griesser. Hand an die unbezahlbaren Kunstwerke anlegen? Kunstfreundinnen und Kunstfreunde werden jetzt die Haare zu Berge stehen. Allerdings ist die Probenentnahme im Interesse des Kunstwerks: Ohne genauer Kenntnis der Schichten ist es oft nicht möglich zu entscheiden, ob und wie sich etwa Bindemittelsysteme zwischen Original und Übermalung unterscheiden – und ob letzteres entfernt werden kann, ohne ersteres zu gefährden.

Mit unterschiedlichen Schleifpapieren werden die Farbschichten geschliffen und unter dem Mikroskop untersucht. KHM
Mit unterschiedlichen Schleifpapieren werden die Farbschichten geschliffen und unter dem Mikroskop untersucht.
Silvester Kössler

"Durch Proben haben wir die Möglichkeit, den Gesamtschichtaufbau von der Grundierung bis zum Firnis zu sehen", sagt Griesser und beruhigt: "Die Proben sind nur einen halben Millimeter groß und werden am Rand entnommen oder an bereits bestehenden Beschädigungen." Mithilfe spezieller Skalpelle, die für die Augenchirurgie entwickelt wurden, werden die Probe aus dem Gemälde gelöst. Im Labor werden sie entweder in Kunstharz eingegossen und angeschliffen, bis die Schichtfolge unter dem Mikroskop sichtbar wird, oder sie kommen zu Václav Pitthard.

Pitthard ist Experte für die Gaschromatografie-Massenspektrometrie. Dabei werden die Proben in die Gasphase gebracht und durch eine lange, dünne Kapillare geschickt. Unterschiedliche Komponenten werden so durch ihre Fließgeschwindigkeit getrennt und abschließend nach ihrer Masse sortiert.

Labor des KHM
Nach der Analyse können die Restauratorinnen und Restauratoren ihrer Arbeit mit wissenschaftlicher Absicherung nachgehen, zum Vorteil der Kunstwerke.
Silvester Kössler

"Die entstehenden Spektren sind der Fingerabdruck der Substanzen", sagt Pitthard. Verschiedenste Öle, Wachse, Harze und Pigmente – sie alle finden sich in der Datenbank, wo Pitthard die Fingerabdrücke der häufigsten Bestandteile zu Vergleichszwecken sammelt. Mit dieser Methode kann die komplizierte Zusammensetzung der einzelnen Farbschichten aufgedröselt werden, damit bei der Restaurierung möglichst nichts schiefgeht.

Diese Methoden schaffen also Informationen, auf die sich Restauratorinnen und Restauratoren bei ihrer Arbeit verlassen können – und damit sorgt die Wissenschaft dafür, dass die Kunstwerke auch in Zukunft Menschen bewegen, begeistern und inspirieren. (Dorian Schiffer, 28.7.2023)