Hipster mit Bart hält Klopapierrolle in der Hand
Bauchweh ohne Grund, das vermiest vielen die Lebensqualität. Doch auch wenn es keine klare Diagnose gibt, kann man einiges dagegen tun.
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Vier von zehn Menschen haben Bauchschmerzen, ohne dass Ärztinnen und Ärzte einen offensichtlichen Grund dafür finden. Eine klare Diagnose bekommen sie oft nicht. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich die Schmerzen nur einbilden, im Gegenteil. Jeder, der nur ein einziges Mal das Gefühl hatte, er schafft es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette, kann wohl ein Lied davon singen.

Eine, die sich damit auseinandersetzt, ist Elisabeth Schartner. Die Internistin mit Spezialisierung auf psychosomatische Medizin kümmert sich um genau solche unspezifischen Bauchprobleme. Ihr Wissen hat sie jetzt in einem Aufklärungsbuch für Betroffene gesammelt ("So klappt's mit der Verdauung. Ratgeber bei Durchfall, Sodbrennen, Blähbauch & Co", erschienen bei Springer). Im Interview erzählt sie, warum Menschen keine Waschmaschinen sind, dass Darmprobleme kein Wohlstandsproblem sind und was der Darm mit Emotionen zu tun hat.

STANDARD: Bauchweh, das kennen wir alle. Aber sehr oft findet man keinen Grund dafür. Dann heißt es: "Sie haben funktionelle Beschwerden." Das ist aber ein recht schwammiger Begriff. Was bedeutet das konkret?

Schartner: Das bezeichnet im Grunde alles, wofür man in den herkömmlichen Untersuchungen keine Ursache finden kann. Ich habe keine Entzündung, ich habe keine Infektion. Man findet auch keinen Tumor und keinen Hinweis auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit, die körperliche Struktur ist in Ordnung. Solche funktionellen Beschwerden gibt es übrigens nicht nur bei Bauchthemen wie Durchfall, Verstopfung oder Sodbrennen, das kann auch bei Kopfweh, Schwindel oder Müdigkeit vorkommen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Man geht davon aus, dass rund ein Drittel der Probleme, mit denen Menschen zum Arzt oder zur Ärztin kommen, funktionell bedingt ist.

STANDARD: Beim Bauch scheint das aber besonders oft der Fall zu sein, bis zu 40 Prozent der Menschen haben laut Untersuchungen Verdauungsbeschwerden ohne offensichtlichen Grund. Woran liegt das?

Schartner: Funktionelle Beschwerden sind etwas ganz Normales im Leben, sie gehören dazu. Es kommt ja auch oft vor, dass uns ein Gelenk wehtut, und nach einer Zeit ist das wieder vorbei. Oder man hat kurz Kopfweh. Und damit können wir auch gut umgehen. Ich erkläre meinen Patientinnen und Patienten dann, sie müssen sich das vorstellen wie bei einem Computer. Die Festplatte passt, das Stromkabel ist angeschlossen, aber trotzdem spinnt er manchmal. Es liegt an der Software. Oder man beschreibt es mit einem Klavier, das nicht gestimmt ist, es klingt dann komisch.

Bei unklaren Bauchschmerzen ist der Gedanke an einen Reizdarm mittlerweile recht etabliert. Man definiert ein Reizdarmsyndrom, wenn man auf den Bauch bezogene Beschwerden hat, die länger als drei Monate andauern und die die Lebensqualität negativ beeinflussen. Die Lebensqualität ist das Ausschlaggebende. Nicht jeder Durchfall gehört gleich in diese Kategorie. Es ist zum Beispiel ein Stück weit normal, dass man aufs Klo muss, weil man sich aufregt. Wenn die Beschwerden nicht so gravierend sind, kann es sogar schon helfen, dass ich mit meinen Patientinnen und Patienten über den Aufmerksamkeitsfokus, den sie auf die Beschwerden legen, spreche. Tatsächlich ist es nämlich genau dieses Schon-darauf-Warten, dass mit dem Bauch etwas ist, was die Lebensqualität so beeinträchtigt. Aufklärung kann da oft schon einiges verändern.

STANDARD: Heißt das, die Probleme kommen auch von dieser Aufmerksamkeit?

Schartner: Nein, das heißt es nicht, im Gegenteil. Es ist ganz wichtig, Betroffenen zu sagen, dass sie sich diese Schmerzen und Probleme nicht einbilden. Aber manchen hilft ein etwas entspannterer Zugang.

Wir kenne mittlerweile viele Ursachen für Darmprobleme, auch wenn die nicht immer nachzuweisen sind. Veränderte Darmbakterien sind ein Grund. Sehr oft ist das autonome Nervensystem überaktiviert. In der Darmschleimhaut findet man vermehrt entzündete Zellen. Es kann auch sein, dass das Schmerzempfinden verändert ist. Der Darm gibt ja Dehnungsreize ab, um anzuzeigen, wo sich gerade Stuhl befindet. Diese Reize werden üblicherweise unbewusst verarbeitet, aber beim Reizdarmsyndrom sehen wir oft, dass sie stärker und als Schmerzen wahrgenommen werden. Einerseits deshalb, weil die Nervenenden im Bauch sensibler sind, andererseits, weil die Schmerzverarbeitung im Gehirn verändert ist.

STANDARD: Und warum kommt es überhaupt zu diesen Veränderungen?

Schartner: Weil wir keine Waschmaschinen sind oder andere Maschinen, bei denen man immer weiß, wie sie funktionieren. Wir reagieren auf die Außenwelt, dadurch kommt es zu Reaktionen und Veränderungen. Aber die kann man nicht einfach wieder rückgängig machen, indem man ein bestimmtes Schema einsetzt. Jeder Mensch funktioniert da anders. Das ist prinzipiell etwas Normales und Gutes. Genauso normal ist es, dass der Puls steigt, wenn wir uns über etwas freuen. Beim Bauch ist oft das Problem, dass es wehtut. Aber lernt man, damit entspannter umzugehen, kann das helfen, dass sich die Lebensqualität insgesamt wieder bessert.

STANDARD: Warum muss man das erst wieder lernen? Machen die Leute mittlerweile alles zum Problem?

Schartner: Das ist sehr individuell. Ein Wohlstandsproblem ist es sicher nicht. Wenn man sich die entsprechenden Studien anschaut sieht man, dass solche funktionellen Bauchbeschwerden in Bangladesch genau so häufig sind wie bei uns. Und es gibt Menschen, die haben so heftige Beschwerden, dass sie nicht arbeitsfähig sind, die bekommen schon Stuhldrang, wenn sie die Wohnung verlassen wollen. Natürlich gibt es auch jene, die einfach nicht damit umgehen können, dass der Bauch so laute Geräusche macht. Da muss man eben aufklären, was normal ist und was nicht mehr. Gerade der Darm ist ja auch ein emotionales Zentrum.

STANDARD: Was hat der Darm mit Emotionen zu tun?

Schartner: Im Darm befinden sich unglaublich viele Nervenzellen, man spricht auch vom Bauchhirn. Das Gehirn bekommt aus dem gesamten Körper permanent Rückmeldungen, ohne dass uns das bewusst ist, und aus dem Bauch kommt da ganz besonders viel. Hier gibt es also einen klaren psychosomatischen Einfluss. Aber ich als Psychosomatikerin bin ohnehin überzeugt, dass es überhaupt keine Krankheit gibt, die nicht psychosomatisch gesehen werden kann. Auch nach einer Gallenoperation gelingt die Heilung schneller, wenn man in einem Zimmer mit Blick auf einen Baum liegt statt auf eine graue Betonwand.

Der Bauch ist aber noch einmal speziell. Alle unsere Erfahrungen und Erinnerungen sind als Ganzkörpererlebnisse gespeichert. Ein mehr oder weniger dramatisches Ereignis ist nicht nur im Gehirn im Unterbewusstsein abgespeichert, auch der Körper erinnert sich daran, wie er sich damals womöglich verkrampft hat, dass man sich übergeben oder wo man Schmerzen verspürt hat. Und auf diesen Erfahrungsschatz greifen wir ganz unbewusst immer zurück. Man spricht da auch vom Bauchgefühl, weil im Bauch so viel Erfahrungen zusammenlaufen. Dieses Bauchgefühl oder intuitive Wissen ist etwas sehr Nützliches, es kann uns vor Gefahren warnen. Ein simples Beispiel, das viele kennen, ist, dass man sich als Kind übergeben hat, nachdem man ein bestimmtes Nahrungsmittel gegessen hat. Vielen wird auch als Erwachsenen noch schlecht, wenn sie es nur anschauen. Wir reagieren aber nicht nur bei schlechtem Essen auf unsere Umwelt, sondern bei jedem Erlebnis. Und genau dieses Bauchgefühl ist bei vielen Menschen mit Reizdarm etwas aus dem Ruder geraten.

Da muss man dann schauen, wo überall etwas nicht stimmt und an welchen Stellrädern man drehen muss. Weil gerade beim Reizdarm ist in den seltensten Fällen nur die Ernährung schuld oder nur der emotionale Stress. Hilft man dem Körper, die eigenen Selbstheilungskräfte zu aktivieren, verändert das viel.

STANDARD: An welchen Schrauben kann ich aber konkret drehen? Gerade bei Bauchschmerzen gibt es ja sehr wenig, das wirklich hilft, hat man den Eindruck ...

Schartner: Das stimmt. Die Behandlung ist echte Teamarbeit, Wir schauen gemeinsam, auf welchen Ebenen man ansetzen kann. Der Patient, die Patientin gibt mir dann Rückmeldung, was funktioniert hat und was nicht. Dann justieren wir neu. Ich schicke die meisten Betroffenen auch zur Diätberatung, da wird abgeklärt, was beim Essen ein Problem sein kann und was eher nicht. Viele lassen nämlich extrem viele Nahrungsmittel weg, weil sie den Eindruck haben, das löst Attacken aus. Dann kann es aber passieren, dass sie ihr eigenes Mikrobiom aushungern.

STANDARD: Das bedeutet, auch bei Bauchschmerzen ist mehr essen mehr?

Schartner: Ja, für diese Patientinnen und Patienten ist es ganz wichtig, dass sie beginnen, wieder breit zu essen. Sonst leidet eben das Mikrobiom, und man bekommt womöglich Mangelerscheinungen.

STANDARD: Was sind die anderen Behandlungsansätze?

Schartner: Da gibt es einige. Mittlerweile gibt es Medikamente gegen Reizdarmsyndrom, auch wenn viele Ärzte die noch nicht einsetzen. Natürlich kann man nicht sicher versprechen, dass sie bei jedem wirken. Aber das ist in Wahrheit in allen Bereichen der Medizin so. Der Mensch ist ja keine Maschine, bei der B passiert, wenn man A tut.

Deutliche Besserung erzielt man oft, wenn man die individuelle Stressverarbeitung verbessert. Da hilft zum Beispiel die so genannte Bauchhypnose. Das ist eine Art Meditationsprogramm, das gezielt den Bauch beruhigt und das man sehr gut lernen kann.

Bewegung tut auch vielen gut. Und was das Essen anbelangt, da geht es nicht nur darum, was man isst, sondern auch darum, wie man es isst. Man soll sich für seine Mahlzeiten Zeit nehmen, regelmäßig essen und die Speisen gut kauen. Das wissen wir im Grunde alle, aber im täglichen Leben und Stress geht das oft verloren. Und es bringt auch viel, wenn man ganz generell auf ein geregeltes Leben mit klaren Abläufen achtet. Das ist ein Stressfaktor, den man selbst ganz gut beeinflussen kann.

STANDARD: Wenn es um den Darm geht, ist auch das Mikrobiom nicht weit, also die Bakterienvielfalt im Darm. Wie stark spielt das bei Bauchschmerzen mit?

Schartner: Das spielt wahrscheinlich sogar ziemlich entscheidend mit. Das Problem ist nur, dass wir das Mikrobiom noch nicht wirklich entscheidend beeinflussen können, außer über die Ernährung. Man kann es für die breite Masse auch nicht analysieren. Es gibt zwar viele Testangebote, auch im Internet, bei denen man den Stuhl zur Untersuchung einschickt. Aber solche Stuhltests sind im Grunde sinnlos. Es wird sogar in den aktuellen Behandlungsleitlinien empfohlen, das nicht zu tun.

STANDARD: Warum bringt das nichts?

Schartner: Weil diese Mikroorganismen lebende Organismen sind. Und wenn die zwei Tage in ein Labor unterwegs sind, haben sie sich so verändert, dass sie keine Aussagekraft mehr haben. Im Stuhl sind außerdem ganz andere Bakterien als die, die an der Darmschleimhaut kleben. Aber selbst wenn man das Darmmikrobiom entschlüsseln würde, könnten wir es immer noch nicht wirklich beeinflussen. Das schafft nur die betroffene Person selbst über gesunde Ernährung.

STANDARD: Aber es gibt ja auch Probiotika und andere Darmbakterien, die, so wird es zumindest versprochen, alles besser machen sollen ...

Schartner: Das kann man natürlich ausprobieren, ich habe einige Patientinnen und Patienten, die schwören auf Probiotika. Das rede ich auch niemandem aus, außer es kostet unglaublich viel. Die Datenlage ist aber bei weitem noch nicht so klar, dass man sagen kann, bei welchen Beschwerden welche Bakterienstämme zugeführt werden sollen. Und natürlich wird, wie oft in der Werbung, ein wenig übertrieben, welche Wirkung zu erwarten ist. Oft ist es leider so, dass, auch wenn ein Präparat anfangs gut wirkt, diese Wirkung nach dem Absetzen wieder nachlässt, wenn an den anderen Stellschrauben nicht gedreht wird. Eine langfristige Veränderung gelingt nur über die richtige Ernährung. Die Nahrungsergänzungsmittelhersteller, und genau das sind die Probiotika, das sind keine Arzneimittel, machen es sich halt leicht, weil sie fast nie Placebo-kontrollierte Studien durchführen. Und nur weil etwas wirkt, heißt das noch lange nicht, dass das auch der Grund dafür ist.

STANDARD: Wenn also die Ernährung der Schlüssel ist, wie muss die dann aussehen?

Schartner: Man muss den Bakterien ein Milieu bieten, in dem sie gerne bleiben. Da gibt es keine allgemeingültige Empfehlung, das sieht wahrscheinlich bei jedem Menschen ein bisschen anders aus. Ein Ansatz ist die sogenannte Fodmap-Diät, für die auch Studiendaten zeigen, dass sie hilft. Da werden über vier bis sechs Wochen sehr viele Nahrungsmittel weggelassen, anschließend führt man schrittweise das wieder ein, was man verträgt. Dieser Ansatz hilft vielen, ich sehe ihn aber trotzdem etwas kritisch. Ich finde, diese Diät sollte man nur mit begleitender Beratung machen. Ansonsten fällt es einigen sehr schwer, wieder zu einem normalen Essverhalten zurückzufinden.

Generell kann man aber sagen, dass Ballaststoffe sehr wichtig sind. Die sind in Hülsenfrüchten, in komplexen Kohlenhydraten und in vielen Obst- und Gemüsesorten. Das Gemeine ist, dass man, gerade wenn Verdauungsbeschwerden recht akut sind, diese schwerverdaulichen Stoffe nicht gut verträgt und dass man sich langsam vortasten muss.

STANDARD: In der Komplementärmedizin gibt es den Begriff des "Leaky Gut", also des durchlässigen Darms. Ist das ein reales Krankheitsbild?

Schartner: Ja, auch die Wissenschaft spricht vom "Leaky Gut". Zumindest in der Forschung ist klar, dass die Darmbarriere zum restlichen Körper bei manchen Menschen durchlässiger ist als bei anderen. Das Problem ist, dass wir derzeit noch keine allgemein einsetzbaren Biomarker haben, an denen wir das konkret festmachen können. Wenn jemand große Probleme mit dem Bauch hat oder auch an Zöliakie leidet, dann kann man davon ausgehen, dass da ein Problem besteht. Aber nachweisen können wir es noch nicht. Und auch hier wissen wir, dass der gesunde Lebensstil der Schlüssel zu einer Verbesserung ist.

STANDARD: Und wie sieht dieser gesunde Lebensstil jetzt ganz konkret aus?

Schartner: Es ist im Grunde recht simpel. Viel Gemüse und Ballaststoffe essen, Zucker und Verarbeitetes reduzieren, Stress vermeiden, sich regelmäßig bewegen und auf guten Schlaf achten. Und ein wesentlicher Faktor ist auch, wie wir uns die Welt konstruieren, das hat einen entscheidenden Einfluss auf unser Erleben. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen allein im Kino, es ist dunkel, die Reihen vor und hinter ihnen sind leer, und Sie schauen sich einen wirklich heftigen Horrorfilm an. Und dann stellen Sie sich vor, Sie sehen den gleichen Horrorfilm mit Freunden zu Hause auf der Couch, Sie lachen über die absurden Szenen, Sie sind in der Gruppe. Sie werden den Film ganz anders erleben. Und genau hier sollte man in der Gestaltung des eigenen Lebens ansetzen. Wenn man es schafft, bei einigen Dingen eine gewisse Distanz zu etablieren, hat das einen sehr positiven Einfluss auf die Lebensqualität. (Pia Kruckenhauser, 22.7.2023)