Drei einzelne Eisberge zwischen Schäreninseln, im Hintergrund leicht schneebedeckte Berge
Eisberge nahe dem grönländischen Kulusuk im Jahr 2019.
AP

Beinahe wären die Proben in Vergessenheit geraten. Sie stammten von einem Projekt, das militärischer Geheimhaltung unterlag, und ruhten Jahrzehnte in einem Kühlschrank. Gerade das erweist sich nun aber als Glücksfall, der neue Erkenntnisse über den grönländischen Eisschild bringt.

Lange Zeit waren Fachleute davon ausgegangen, dass der bis zu drei Kilometer dicke Eisschild in Grönland mindestens 2,5 Millionen Jahre alt ist. Doch eine nun im Fachjournal "Science" erschienene Studie zeigt auf, dass eine Periode moderater Erwärmung zwischen 424.000 und 374.000 Jahren vor unserer Zeit eine große Eisschmelze zur Folge hatte.

Für die Studie untersuchten Forschende der Universität Vermont und der Utah-State-University sowie 14 anderer Partnerinstitutionen Sedimente aus einem Eisbohrkern, der in den 1960ern bei einer Basis der US-Armee genommen wurde.

Camp Century ist eine verlassene Armeebasis der USA aus dem Kalten Krieg.
Underground Geocenter

Bohrungen im Kalten Krieg

Die Anlage hieß Camp Century und lag im Nordwesten Grönlands. Diese in den späten 50er-Jahren errichtete Armeebasis bestand aus einem drei Kilometer langen Netzwerk aus Tunneln, die bis zu acht Meter tief im Eis verborgen lagen. Sie enthielt Unterkünfte für bis zu 200 Soldaten, Labors, eine Krankenstation, aber auch ein Kino und eine Kapelle. Ein Kernreaktor stellte die Stromversorgung sicher. Diese unter dem Eis liegende Stadt, die unter Genehmigung der damals für Grönland zuständigen dänischen Regierung entstand, sollte letztlich zur Stationierung von Atomwaffen dienen.

Ursprünglich hätte die Station nur der erste Schritt zu einem viel größeren Komplex sein sollen, doch verschiedenste Probleme, unter anderem mit dem Reaktor, führten zur Aufgabe der Anlage. Die Tunnel sind inzwischen eingestürzt und unter einer Schneeschicht verborgen. Das ist ein Problem, weil immer noch 200.000 Liter Diesel und leicht radioaktives Wasser dort lagern. 10.000 Tonnen Müll sollen es insgesamt sein.

Teil des Projekts waren damals auch Bohrungen, die bis zum Grund des 1.400 Meter messenden Eisschildes führten. Von dort wurde ein mehrere Meter langer Bohrkern mit Sedimenten an die Oberfläche geholt. Er wurde archiviert und geriet in Vergessenheit.

Eine Forscherin in einem Labormantel hantiert mit einem metallenen Probenbehälter.
Projektmitarbeiterin Hawke Woznick bereitet die Proben aus dem Bohrkern zur Untersuchung vor.
USU/Levi Sim

Zum Glück keine alten Analysen

2017 wurde der Bohrkern durch Zufall wiederentdeckt. Neue Untersuchungen des Materials enthüllten nun, dass Grönland auch in deutlich jüngerer Zeit einmal eisfrei gewesen sein muss. "Wir hatten immer angenommen, dass der Eisschild seit fast 2,5 Millionen Jahren in etwa gleich geblieben ist", sagt die Geowissenschafterin Tammy Rittenour von der Utah State University. "Aber unsere Untersuchung zeigt, dass er genug geschmolzen ist, um das Überleben von Moos, Sträuchern und schwirrenden Insekten zu erlauben." Es könnte sich um einen borealen Wald gehandelt haben, mutmaßt das Team.

Die Proben seien ein außerordentlicher Glücksfall, freut sich die Forscherin. "Wir haben nur sehr wenige Proben von unterhalb des grönländischen Eisschildes, weil die meisten Bohrungen abgebrochen werden, wenn sie die Basis des Eises erreichen", sagt Rittenour. "Diese wiederentdeckten Sedimente aus dem Camp Century stellen eine einzigartige, unberührte Zeitkapsel vergangener Bedingungen dar."

Da die Proben gefroren und weitgehend unberührt geblieben waren, gelang es dem Team mit einer Technik namens Lumineszenzdatierung festzustellen, wann sie das letzte Mal dem Sonnenlicht ausgesetzt waren. "Hätten Forscher die Sedimente in der Vergangenheit untersucht, hätten wir keine der Analysen durchführen können, die wir für diese Arbeit gemacht haben."

"Alarmierender Weckruf"

Die Untersuchung des Bohrkerns bestätigt, was bereits eine Studie vor zwei Jahren nahelegte. Damals fand man heraus, dass das Eis nicht älter als etwa eine Million Jahre sein konnte. Nun ließ sich das Alter der Sedimente noch genauer zuordnen.

Rittenour berichtet, dass das Abschmelzen damals für einen Anstieg des Meeresspiegels von etwa 1,5 Metern sorgte. Insgesamt könnte der Meeresspiegel nach Modellrechnungen um bis zu sechs Meter höher gewesen sein. Das geschah, obwohl die Atmosphäre deutlich weniger CO2 enthielt als heute. Die hohe Konzentration an Treibhausgasen, mit der künftig zu rechnen ist, wird solche Phänomene verschärfen.

"Wir stellen fest, dass das Eisschild viel empfindlicher auf den Klimawandel reagiert, als wir bisher dachten", sagt Rittenour. "Das ist ein alarmierender Weckruf." Ihr Kollege Paul Bierman von der Universität Vermont bestätigt: "Die Vergangenheit Grönlands, die in dem gefrorenem Boden konserviert ist, deutet auf eine warme, feuchte und weitgehend eisfreie Zukunft für den Planeten Erde hin." (Reinhard Kleindl, 23.7.2023)