Die TQ Samsun, das letzte Schiff, das dank Getreideabkommen den Hafen Odessa verlassen konnte.
Die TQ Samsun, das letzte Schiff, das dank Getreideabkommen den Hafen Odessa verlassen konnte.
EPA/SEDAT SUNA

Die Marinedatentracker im Netz zeigen wie gewohnt ein dichtes Schiffsgewusel auf den Weltmeeren – doch das Gewässer vor der ukrainischen Schwarzmeerküste wirkt quasi so gut wie leer. Die TQ Samsun, das letzte Schiff, das den Hafen Odessa im Rahmen des Getreideabkommens am Sonntag verlassen konnte, ist demnach längst im Mittelmeer und hat Kurs auf Malta genommen. Zugleich zeigten Daten von Donnerstag einen Frachterstau vor den Häfen an der rumänisch-ukrainischen Donaugrenze.

Das sind nur die sichtbarsten Anzeichen der folgenreichen Absage Russlands gegenüber der Schwarzmeer-Initiative (BGSI), die sichere Verschiffung von ukrainischem Getreide zu gewährleisten. Moskau hat angekündigt, fortan alle Schiffe im Nordwesten des Schwarzen Meeres und ihre Flaggenstaaten als militärische Ziele zu werten. Der Hafen von Odessa und seine Anlagen stehen seit Tagen unter Beschuss. Die Ukraine hat umgekehrt angekündigt, alle Schiffe als Ziele zu betrachten, die Häfen an der von Russland besetzten Küste des Landes zum Asowschen Meer anfahren. Die Konsequenzen gehen über die Region hinaus und könnten sich auf die ganze Welt erstrecken. Ein Überblick über die Folgen ...

... für die Ukraine

Frage: Wie wichtig war der Getreidehandel für die Ukraine?

Antwort: Für die Kiewer Regierung fällt eine beträchtliche Einnahmequelle weg, die dem klammen Land, das sein Geld für teure Waffen ausgeben muss, bisher geholfen hatte. Vor dem Krieg, im Jahr 2021, hatte die Ukraine Agrargüter für 27 Milliarden Dollar exportiert. Seither ist die Menge wohl etwas zurückgegangen – die Preise allerdings sind gestiegen.

Frage: Welche Häfen gibt es dort eigentlich?

Antwort: Die Ukraine verfügte vor dem Krieg über zahlreiche Häfen im Schwarzen und im Asowschen Meer sowie in der Donaumündung. Jene am Aswoschen Meer (Mariupol, Berdjansk und Henitschesk) liegen in von Russland besetzten Gebieten. Dazu kommen mehrere auf der Krim, die seit 2014 von Russland kontrolliert werden.

Frage: Sind sie jetzt alle vom Ende des Getreidedeals betroffen?

Antwort: Nein. Vom Abkommen waren nur die drei größten Häfen der Ukraine umfasst: Odessa und die beiden nahegelegenen Anlagen in Juschne und Tschornomorsk. Für alle anderen Häfen galten die Ausnahmen nicht.

Frage: Gibt es Ausweichmöglichkeiten?

Antwort: Schon bisher waren auch mehrere Häfen in der Donaumündung weiter in Betrieb – vor allem die drei Anlagen Reni, Ismajil und Ust-Dunaisk. Die Donau bildet dort die Grenze zwischen der Ukraine und dem Nato-Staat Rumänien – für Russland wäre es sehr riskant, die Anlagen anzugreifen. Schiffe können fast den gesamten Weg auf sicherer, weil rumänischer Seite und im rumänischen Meeresgebiet zurücklegen. Allerdings: Die Häfen sind nicht für große Schiffe ausgelegt, sie können den Ausfall also kaum auffangen.

... für Russland

Frage: Was hatte Russland vom Deal?

Antwort: Moskau, das mit seiner Schwarzmeer-Blockade den Deal nötig gemacht hat, hat diesen in erster Linie als Druckmittel eingesetzt, um dem Westen Zugeständnisse abzuringen. Moskau hat diesem etwa nur zugestimmt, weil das Uno-Sekretariat von António Guterres zeitgleich in einer Absichtserklärung zusicherte, die "ungehinderte Versorgung der Weltmärkte mit Nahrungs- und Düngemitteln, einschließlich Rohstoffen für deren Produktion inklusive Ammoniak, aus der Russischen Föderation zu fördern".

Frage: Und das hat nicht funktioniert?

Antwort: Wenn man Russland Glauben schenkt, dann nicht. Dem widerspricht Guterres nach dem Ende des Deals deutlich. Demnach hat der russische Getreidehandel ein hohes Exportvolumen erreicht und der Düngemittelhandel massiv von gestiegenen Preisen profitiert. Guterres verwies auch auf Sanktionsbefreiungen in den USA, Großbritannien und der EU, die er für Moskau erwirkt habe. Der Kreml sieht seine Bedingungen dennoch nicht erfüllt und will der Uno drei Monate Zeit geben. Erst dann könnten wieder Gespräche aufgenommen werden. Für Guterres hat die Absichtserklärung aber bereits ihre Gültigkeit verloren. Die Uno und die Türkei versuchen derzeit dennoch, Moskau zurück an den Tisch zu holen.

... für die Welt

Frage: Wem fehlt jetzt das Getreide?

Antwort: Uns allen. Denn wenn viel Getreide liegen bleibt, kann das überall seinen Preis antreiben. Derzeit befinden sich die Getreidepreise auf einem Drei-Wochen-Hoch, nachdem der Deal die Preise im vergangenen Jahr wieder gesenkt hatte. Das ist insbesondere für importabhängige Länder im Globalen Süden dramatisch: Benin, Somalia und Tunesien – um nur einige zu nennen – sind fast zu 100 Prozent von Weizen aus Russland und der Ukraine abhängig. Das Gros des ukrainischen Weizens geht aber an China. Konkret um Erntemengen umgefallen sind daher asiatische Müller, die für die nächsten Monate Kaufverträge mit Kiew abgeschlossen hatten.

Frage: Ist die Schifffahrt im Schwarzen Meer eigentlich generell unsicher?

Antwort: Der Deal hat für Sicherheit in der zivilen Schifffahrt gesorgt. Mit den gegenseitigen Drohungen, wonach kommerzielle Schiffe als potenzielle militärische Ziele gewertet werden, wird es für Schiffsbetreiber gefährlicher, Häfen im Schwarzen Meer anzusteuern, und Versicherungen werden entsprechend teurer. Kiew hofft dennoch, die Schifffahrt auch ohne russische Beteiligung am Laufen zu halten. Branchenvertreter sehen das skeptisch.

... für die EU und Österreich

Frage: Wie hat Europa auf die Krise reagiert?

Antwort: Die EU hat angekündigt, ihre sogenannten Solidaritätsbahnen weiter auszubauen. Damit sind Investitionen in das EU-Straßen- und Schienennetz gemeint, um mehr ukrainischen Weizen über die EU auf den Weltmarkt zu bringen. Inzwischen ist es laut der EU das Gros, das auf diesem Weg die Ukraine verlässt. Projekte, die ukrainische Bahn auf EU-Spurweite umzustellen, sind wohl noch Zukunftsmusik. Derzeit spricht man in Brüssel davon, die Getreidetransite über Polen und Rumänien zu erhöhen. Das ist heikel: Bauern fürchten Preisdumping durch die Importe aus der Ukraine. Die beiden Länder sowie Ungarn, die Slowakei und Bulgarien haben daher mit EU-Erlaubnis vorerst die Einfuhr verboten – nicht aber den Transit.

Frage: Gilt das alles nicht auch für Österreich?

Antwort: Auch hierzulande war die Begeisterung für die zollfreie Lieferung ukrainischen Getreides in Agrarkreisen eher begrenzt. Auch hier kritisierte man, dass viel von dem eigentlich für den Globalen Süden bestimmten Getreide aus der Ukraine in Europa hängengeblieben ist. Die Landwirtschaftskammer teilte dem STANDARD schon im April mit, man müsse bei aller Solidarität unfairen Wettbewerb ausschließen. Etwas weniger feinsinnig agierte der Niederösterreichische Bauernbund. Dieser warnte schon Ende Juni in einer Aussendung vor "ukrainischem Genweizen in unseren Kaisersemmeln" und Dumping bei den Qualitätsstandards. Auch nun plädierte die Landwirtschaftskammer via APA darauf, eine Umleitung weiteren Getreides nach Westeuropa möglichst zu verhindern.

Frage: Was sagt die Regierung dazu?

Antwort: Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat das Ende des Getreidedeals am Donnerstag vor einem Treffen mit seinen EU-Amtskolleginnen und -kollegen scharf kritisiert. Moskau setze Hunger als Waffe ein, sagte er, und das sei "an Zynismus gar nicht mehr zu überbieten". Russlands Handeln sei auch ein Schlag ins Gesicht jener afrikanischen Staaten, die Russlands Vorgehen in der Ukraine bisher nicht verurteilt hatten, sagte er. (Flora Mory, Manuel Escher, 20.7.2023)