Ein Kupferstich mit zwei Männern, links Ricci, rechts ein Chinese in einheimischer Tracht.
Ricci mit einem Mann namens Xu Guangqi auf einer Abbildung in einem Buch Athanasius Kirchers.
gemeinfrei

Im Jahr 1577 traf der erst 25-jährige römische Jesuitenbruder Matteo Ricci eine Entscheidung, die sein Leben veränderte. Er meldete sich mit drei Studienkollegen als Missionar für Ostindien. Die Jesuiten waren damals ein junger, aufstrebender Orden, und neben der namensgebenden Liebe zu Jesus und einem Faible für Wissenschaft war ihnen von ihrem Gründer auch der Auftrag zur Missionsarbeit mitgegeben worden. Nach einer Audienz bei Papst Gregor XIII. reisten die vier nach Portugal, damals das Tor in den Osten. Portugal verfügte über Kolonien an den Küsten Afrikas und Indiens und kontrollierte die Schifffahrtsrouten dorthin. In Portugal wurden sie auf ihr Abenteuer vorbereitet, bevor sie eine sechsmonatige Schiffsreise antraten, die sie von Lissabon nach Goa in Indien brachte. Ricci schloss in Goa seine Ausbildung als Priester ab und wurde 1580 geweiht.

Nach zwei Jahren in Indien erreichte ihn eine Einladung seines früheren Lehrers Alessandro Valignano, des Oberhaupts der Jesuiten im Fernen Osten. Er solle nach Macao an der Südküste Chinas gehen. Macao war seit 25 Jahren eine portugiesische Kolonie, und seit 1571 gab es dort einen Sitz der Jesuiten. Ricci willigte ein und betrat erstmals chinesischen Boden. Doch in Macao fand er eine schwierige Situation vor. Konservative Strukturen und Korruption erschwerten die Arbeit der Jesuiten. Europäischen Priestern begegnete man mit Skepsis. Ricci sah keine andere Möglichkeit, als in die Kultur der fremden Welt einzutauchen. Er erlernte die chinesische Sprache und eignete sich kulturelle Gebräuche an. Ricci kleidete sich als chinesischer Gelehrter und gab sich als Buddhist aus, um so viele Kontakte wie möglich zu knüpfen.

Ein Jahr nach seiner Ankunft traf er den Gouverneur von Zhaoqing, einer chinesischen Provinz in der Nähe von Macao. Ricci zeigte dem Herrscher verschiedene Dinge aus Europa, eine mechanische Uhr, ein Prisma, das Licht in bunte Farben zerlegte, und eine Harfe. Als es ihm auch noch gelang, ein hartnäckiges Leiden des Gouverneurs zu heilen, hatte er dessen Respekt gewonnen. Ricci bekam die Chance, ins Landesinnere zu reisen.

Über zwanzig Jahre hinweg drang er immer tiefer in das fremde Land vor, bis er, nach mehrjährigen Aufenthalten in Shaozhou, Nanchang und Nanking, 1601 letztlich gemeinsam mit seinem Assistenten Diego de Pantoja Peking erreichte. Auch dort versuchte Ricci mit der Uhr und der Harfe Eindruck zu schinden, die schon zwanzig Jahre zuvor den Gouverneur überzeugt hatten. Doch inzwischen hatte er mehr anzubieten. Mithilfe seiner hervorragenden Sprachkenntnisse hatte er eine chinesische Karte der damals bekannten Welt gezeichnet. Wieder gewann er das Vertrauen seiner Zuhörer. Zwar traf er den König selbst nicht, bekam aber dennoch eine Anstellung im königlichen Dienst.

Ein Buch im Gepäck

Die Geschichte Riccis als erster Europäer in der Verbotenen Stadt ist Legende. Weniger bekannt ist, dass Ricci bei den Jesuiten in Rom eine hervorragende mathematische Ausbildung genossen hatte. Basis war ein damals bereits fast zweitausend Jahre altes Buch, das Ricci als Standardwerk neben anderen Büchern nach China brachte.

Euklids "Elemente" sind nicht nur das wichtigste erhaltene Lehrbuch der Antike. Die Bedeutung dieses Werks lässt sich daran ermessen, dass es sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts um das meistverbreitete Buch nach der Bibel überhaupt handelte. Mehr als 2.000 Auflagen verschiedenster Art sind dokumentiert. Über Euklid selbst, der im 3. Jahrhundert vor Christus lebte, ist nur wenig bekannt. Doch sein Buch stellte die Kunst der Mathematik auf eine derart solide Basis, dass 2.000 Jahre lang nichts daran auszusetzen war.

Ein Papyrus mit einer geometrischen Zeichnung
Der Papyrus mit einem der ältesten bekannten Fragmente der "Elemente", etwa um 100 nach Christus entstanden.
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Das 13-bändige Werk stellt eher eine Sammlung von Arbeiten verschiedener früherer Gelehrter dar, darunter viele Ergebnisse der Pythagoräer. Das Besondere daran ist, dass es zunächst nur einfache Annahmen bietet – ein Punkt ist etwas, das keine Teile hat, eine Länge ohne Breite ist eine Linie. Daraus baut das Buch Schritt für Schritt die damals bekannte Mathematik auf. So wird mehr als 200 Jahre vor Christus bereits der Satz von Pythagoras bewiesen oder die als Satz von Euklid bekannte Tatsache, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.

Die chinesische Geisteswelt hatte sich über Jahrtausende weitgehend unabhängig entwickelt, jedoch keinen starken Fokus auf Mathematik gehabt. Die chinesische Mathematik beschränkte sich, vergleichbar mit der vorgriechischen Mathematik in Ägypten oder Mesopotamien, weitgehend auf Rechenbeispiele für praktische Zwecke. Der strikte logische Aufbau von Sätzen mithilfe von Axiomen und Beweisen war in China unbekannt, ebenso wie das Werk von Euklid.

Euklids Elemente sind eines der am öftesten aufgelegten Bücher überhaupt. Bereits im 15. Jahrhundert wurde es erstmals gedruckt, nur wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks. Riccis Version war in lateinischer Sprache verfasst, herausgegeben von seinem Lehrer Christopher Clavius. Eine chinesische Übersetzung fehlte.

Eine komplizierte Übersetzung

Als Ricci sich mit dem Gelehrten Xu Guangqi anfreundete, der neu an die Hanlin-Akademie berufen wurde, entstand eine Freundschaft. Xu Guangqi war bereits Jahre zuvor zum Christentum konvertiert und betrachtete Ricci in theologischen Belangen als Lehrer. Gemeinsam fassten sie den Plan, Euklids "Elemente" ins Chinesische zu übersetzen. Das Procedere verlief schließlich so, dass Ricci den lateinischen Text in gesprochenes Chinesisch übertrug, das Xu in klassischem Chinesisch schriftlich formulierte. Bis 1607 entstanden so Übersetzungen der ersten sechs Bücher Euklids in chinesischer Sprache, die unter dem Titel "Jihe Yuanben" in Peking veröffentlicht wurden. Die "Elemente" waren dabei nicht die einzige Übersetzungsarbeit Riccis. Er übertrug auch chinesische Werke ins Lateinische, um sie einer europäischen Leserschaft zugänglich zu machen.

Doch 1607 unterbrach ein Schicksalsschlag die Arbeit. Xus Vater starb, und er musste Peking verlassen. Die Tradition sah vor, dass er nach dem Tod von Vater oder Mutter drei Jahre zu Hause bleiben sollte. Als Xu nach dieser Frist nach Peking zurückkehrte, war Ricci verstorben.

Der fremdartige Zugang der "Elemente" fand nur langsam Niederschlag in China. Das damalige Bildungssystem legte keinen großen Wert auf Mathematik. Nur eine Handvoll Menschen beschäftigte sich mit dem Werk. Dennoch tragen viele mathematische Ausdrücke im Chinesischen heute noch die Namen, die Ricci und Xu ihnen gaben.

Im Jahr 1689 interessierte sich schließlich ein chinesischer Kaiser für die "Elemente". Kaiser Kangxi aus der Qing-Dynastie wollte sich in Astronomie und Mathematik bilden und engagierte zwei französische Lehrer. Auch sie waren wie Ricci Missionare, ausgesandt von Ludwig XIV. Doch unglücklicherweise wurde am Hof des Kaisers statt Chinesisch Mandschu gesprochen, sodass die beiden Lehrer die Elemente selbst auf Mandschu übersetzen mussten.

Eine große Grabstele, von Bäumen umgeben
Das Grab Matteo Riccis in Peking. Normalerweise wurden Ausländer in Macao bestattet.
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Zweihundert Jahre vergingen

Eine vollständige chinesische Übersetzung aller 13 Bücher der "Elemente" wurde erst 200 Jahre später fertiggestellt, und zwar auf Basis einer englischen Version des Werkes. Auch die war erst 1570 entstanden, zuvor waren die Gelehrtensprache Latein und Griechisch vollkommen ausreichend gewesen. Erst 1865 gab es eine vollständige chinesische Ausgabe der "Elemente". Unter dem chinesischen Mathematiker Li Shanlan, der 1868 einen Lehrstuhl für Astronomie und Mathematik in Peking erhielt, wurde Mathematik auf Basis der "Elemente" von Euklid gelehrt.

Von da an ging die Bedeutung der "Elemente" zurück. Die Mathematik verließ nach und nach den sicheren Boden der euklidischen Grundlagen. Es zeigte sich, dass viele der intuitiven Annahmen des Buchs für das Funktionieren einer Theorie nicht zwingend notwendig sind. Das Parallelenaxiom von Euklids Geometrie etwa – zwei Geraden schneiden sich in der Unendlichkeit – lässt sich problemlos durch Alternativen ersetzen. Man erhält dann statt eines flachen Raums gekrümmte Räume. Dieser Umbruch, der heute noch unsere Vorstellungskraft auf die Probe stellt, war eine wichtige Grundlage für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. Auch ein Paradigmenwechsel bei der Definition mathematischer Gegenstände ließ Euklid in den Hintergrund rücken. Definitionen hatten nicht mehr den Zweck, Begriffe intuitiv zu umreißen, sie sollten nur noch die Rolle der mathematischen Gegenstände innerhalb eines Formalismus klären. Dieser abstraktere Zugang hat den Vorteil, nichts Überschüssiges zu enthalten.

Doch mathematische Ergebnisse verlieren in der Regel nicht so schnell ihre Gültigkeit. Tatsächlich enthält das Buch zahlreiche Lücken und implizite Annahmen, die viele Beweise aus heutiger Sicht unzureichend machen. Doch auch wenn moderne Logikerinnen und Logiker angesichts der plastischen Definitionen die Nase rümpfen und hier und dort nachgeschärft werden musste, die Sätze der "Elemente" sind, egal in welchem Kulturkreis, heute noch so gültig wie vor 2.000 Jahren. (Reinhard Kleindl, 30.7.2023)