Das Industriezeitalter begann mit der Erfindung der modernen Dampfmaschine durch den Schotten James Watt. Stehen wir mit der künstlichen Intelligenz wieder an einem solchen Wendepunkt in der Geschichte? Lässt sich das Ausmaß der Veränderungen, die die KI-Anwendungen mit sich bringen werden, überhaupt schon abschätzen? Ich denke, nicht. Doch mit Blick auf die Geschichte fällt ein wichtiger Unterschied auf: Konnte ein gebildeter Zeitgenosse Watts alle technischen Vorgänge hinter einer Dampfmaschine verstehen, ist das bei KI selbst für ausgewiesene Experten nicht der Fall.

US-Präsident Joe Biden über Künstliche Intelligenz
US-Präsident Joe Biden bei der Pressekonferenz zu KI-Maßnahmen:Konzerne wie Microsoft und Co haben sich im Weißen Haus dazu verpflichtet, auf die Sicherheit ihrer KI-Anwendungen zu achten. Ist das nicht naiv?
IMAGO/Pool/ABACA

Wir wissen zwar, wie die Software-Algorithmen Daten "lesen" und anhand dessen Muster erkennen. Aber selbst die Schöpfer der mächtigsten KI-Anwendungen geben zu, die Logiken, nach denen ihre Software zu Ergebnissen kommt, nicht umfassend nachvollziehen zu können. Wir scheinen es mit einer Erfindung zu tun zu haben, die wir nicht ganz verstehen. Das führt zu Verunsicherung.

Die amerikanische Regierung glaubt wieder einmal an die Macht der Selbstbeschränkung. Konzerne wie Microsoft, OpenAI, Google, Meta und Amazon haben sich im Weißen Haus gerade dazu verpflichtet, auf die Sicherheit ihrer KI-Anwendungen zu achten. Ist das nicht naiv? Die Europäische Union wird im Gegensatz dazu die KI-Technologie regulieren. Ich halte das für die bessere Entscheidung! Als "regulatorische Supermacht" will die Union mit dem AI Act die Entwicklung von KI-Technologie mit den Grundrechten in Einklang bringen.

Geprüft auf Tauglichkeit

Vergangene Woche verbrachte ich zwei Tage mit Rechtsexpertinnen und Softwareentwicklern an der Universität St. Gallen. Im Rahmen des sogenannten Grand Challenge wurde der aktuelle EU-Gesetzesentwurf anhand von konkreten Anwendungen auf seine Tauglichkeit geprüft. Viele Entwickler hatten sich davor Fragen zur Sicherheit ihrer Technologie noch nicht gestellt. Nicht aber, weil ihnen Regeln egal gewesen wären. Im Gegenteil: Ich hatte den Eindruck, dass viele froh sind, mit der Regulatorik für ihre Arbeit auch Rechtssicherheit zu bekommen.

Diese Grand Challenge führte mir auch vor Augen, wie breit die Anwendungsfelder von KI sind. Wie bei der Dampfmaschine – um noch einmal den historischen Vergleich zu bemühen – haben wir es mit einem "Werkzeug" mit enormen Möglichkeiten zu tun. Von der Optimierung industrieller Prozesse über autonome Fahrzeuge, Maschinen und Roboter bis hin zu Therapien und neuen Erkenntnissen im Gesundheitswesen: KI wirkt in fast alle Arbeits- und Lebenswelten. Das bringt enorme Chancen. Auf der Schattenseite greifen schon heute autonome Drohnenschwärme in Kriege ein, perfektioniert automatische Gesichtserkennung autoritäre Überwachungssysteme und gefährden KI-gestützte Cyberangriffe unsere kritische Infrastruktur und die fragilen Diskursräume unserer Demokratie. Das sind Risiken, die auch ein EU-AI-Act nicht beseitigen wird. Aber über die Festlegung rechtlicher Rahmenbedingungen für technologische Innovation reduziert die EU zumindest die "kontrollierbaren" Risiken. Wenngleich sie bestenfalls den Status quo berücksichtigen kann, ist das besser als die freiwillige und naive Selbstkontrolle der Konzerne in den USA. (Philippe Narval, 24.7.2023)