Maria Sterkl aus Jerusalem

Ein Meer aus israelischen Fahnen, darunter auch eine Regenbogenfahne.
Viele Demonstrantinnen und Demonstranten zeigten vor der Knesset Flagge.
AFP/HAZEM BADER

Seit Montag 16 Uhr haben Minister in Israel ein gutes Stück mehr Macht als zuvor. Israels rechts-religiöse Koalition unter Benjamin Netanjahu hat das möglich gemacht, indem sie den ersten Teil des umstrittenen Justizgesetzes im Parlament verabschiedete. Die Opposition boykottierte das Votum. Somit wurde das Verfassungsgesetz mit 64 Pro-Stimmen und null Gegenstimmen verabschiedet. Justizminister Jariv Levin, der selbst dem Drängen aus Teilen seiner eigenen Partei, sich auf einen Kompromiss mit der Opposition einzulassen, nicht nachgeben wollte, strahlte nach der Abstimmung übers ganze Gesicht. Und aus Itamar Ben-Gvirs rechtsextremer Otzma-Jehudit-Partei war bereits zu hören, dass das "nur der erste Teil" war – und dass man weitere Schritte ergreifen werde, um die Justiz unter Regierungskontrolle zu bringen.

Video: Israels Parlament verabschiedet zentralen Teil von Justizreform
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Worum es beim ersten Teil der Reform geht: Das Höchstgericht hatte bisher die Möglichkeit, alle Entscheidungen der Verwaltung nach dem Kriterium zu prüfen, ob sie "grob unangemessen" seien. Diese Art der Prüfung ist vor allem bei Korruptionsverdacht relevant: Wird ein Beamtenposten in einem Ministerium mit jemandem besetzt, dessen einzige Qualifikation ein freundschaftliches Verhältnis zum Minister ist, dann wäre das so ein "grob unangemessener" Schritt, der vom Gericht aufgehoben werden konnte. In Zukunft wird das in vielen Fällen nicht mehr möglich sein.

Zähmungsfunktion dahin

Vertreter der Koalition hatten zuletzt erklärt, dass es sich dabei um "eine Kleinigkeit" handle, "eine Reform ohne große Bedeutung", wie es etwa Bildungsminister Joav Kisch zuletzt formulierte. Dem widerspricht Yochanan Plesner, Leiter des Israelischen Demokratieinstituts (IDI), vehement. Die Prüfung der "groben Unangemessenheit" von Verwaltungsentscheidungen habe vor allem eine wichtige Zähmungsfunktion in den Verwaltungsapparaten. "Sie stellt sicher, dass die Juristen und fachlich kompetenten Beamten in die Entscheidungen eingebunden werden", sagt Plesner. Künftig müsse sich ein Minister nicht mehr um solch fachliche Sorgfalt kümmern, weil es keine gerichtliche Prüfung der Entscheidungen mehr gibt.

Eine der ersten faktischen Auswirkungen könnte eine höchst brisante Personalie sein: die Ablöse von Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, einer scharfen Kritikerin der Justizreform. Sollte sie durch einen regierungsfreundlicheren Nachfolger ersetzt werden, könnte das dem unter Korruptionsverdacht stehenden Netanjahu die Tür für einen vorteilhaften Deal mit den Anklagebehörden öffnen – und vor gerichtlicher Verurteilung schützen.

Netanjahu spricht von "notwendigem demokratischen Schritt"

Das Knesset-Votum am Montag war von heftigen Protesten in Jerusalem begleitet. Die Polizei setzte Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein, die sich immer wieder rund ums Parlament aneinanderketteten oder mit Sitzblockaden die Zufahrten versperrten. Es ist zu erwarten, dass die Proteste in den nächsten Tagen an Intensität gewinnen werden. Der Streik, der am Montag nur wenige Sektoren wie Banken, Anwaltskanzleien und Teile des Handels umfasste, dürfte sich ausweiten – der Gewerkschaftsverband beriet Montagnachmittag über einen Generalstreik.

Regierungschef Benjamin Netanjahu nannte den Beschluss dagegen einen "notwendigen demokratischen Schritt". Dieser ermögliche der gewählten Führung das Regieren im Sinne der Mehrheit der Bürger, sagte Netanjahu am Montagabend in einer Ansprache. Die Erfüllung des Wählerwillens sei "das Wesen der Demokratie" – und nicht ihr Ende. Umfragen zufolge sprach sich zuletzt allerdings nur ein Viertel aller Israelis für die Umsetzung der Justizreform aus.

Spaltung des Landes

Der Justizcoup der Regierung spaltet nicht nur Israels Gesellschaft. Das Land steht auch international isolierter da denn je. Das zeigt sich schon in der Art, wie Washington zuletzt mit Jerusalem kommunizierte: Um seinen unmissverständlichen Aufruf, die Justizreform zu stoppen, an Israels Regierung zu übermitteln, griff US-Präsident Joe Biden zum Telefon – aber nicht, um Netanjahu anzurufen, sondern um mit dem israelischen Journalisten Barak Ravid zu telefonieren.

Der transportierte dann verlässlich über alle Kanäle den Appell, die Regierung solle "angesichts der Bedrohungen und Herausforderungen, vor denen Israel derzeit steht, einen breiten Konsens suchen". Immerhin sind es die USA, die als stärkster Geldgeber dafür sorgen, dass Israel Bedrohungen militärisch effektiv abwehren kann.

Genau diese Effektivität der Armee steht nun auf dem Prüfstand. Jeden Tag geben hunderte neue Reservisten ihre Bereitschaft zurück. Zuletzt erklärten mehr als 900 Mitglieder des Militärgeheimdienstes, nicht mehr einzurücken. Für die Armee sind das empfindliche, schwer auszugleichende Einbußen.

Auto rast in Protestzug

Der Abstimmung im Parlament waren in der Nacht auf Montag und am Montagvormittag stundenlange Verhandlungen über einen Kompromiss vorangegangen. Die Opposition war bereit, der Koalition entgegenzukommen, die Hardliner in der Regierung blockten schließlich ab. Oppositionsführer Jair Lapid verkündete das Scheitern der Gespräche und konstatierte: "Wir sehen hier die feindliche Übernahme der israelischen Mehrheit durch eine extremistische Minderheit."

Das Protestlager plant nun nächste Schritte. Neben massiven Straßenblockaden will man die Verfassungsänderung beim Höchstgericht anfechten. Eine entsprechende Beschwerde wurde bereits eingebracht. Am Montagabend raste dann bei einem Protestzug gegen die Justizreform ein Auto in eine Menschenmenge aus Demonstrantinnen und Demonstranten. Drei Menschen wurden dabei am Montag in einem Ort nördlich von Tel Aviv verletzt, teilte die Polizei mit. Die Demonstrierenden hatten eine Fahrbahn blockiert. Ein Video im Netz zeigte, wie das Auto mit voller Wucht und ohne Rücksicht durch die Menschenmenge auf der Straße fuhr. Bereits in der Vergangenheit hatten wütende Autofahrer Demonstrierende angefahren, die aus Protest gegen die umstrittene Justizreform Straßen versperrten. Die Beamten nahmen den Fahrer, dessen Motiv am Abend zunächst unklar war, nach einer Fahndung fest. (Maria Sterkl aus Jerusalem, APA, 24.7.2023)