Seit Wochen geben die Temperaturen an der Oberfläche der Weltmeere zur Sorge Anlass. Sie sind sehr viel höher als sonst – ganz besonders im Nordostatlantik. Dort wird seit 1979 genau gemessen, und die höchste Abweichung, die es im Juni in den vergangenen 44 Jahren gab, lag bisher bei 0,49 Grad Celsius. Für den Juni 2023 wurde nun allerdings eine Anomalie von 1,36 Grad Celsius registriert.

Meerestemperaturen Anomalie
Abweichungen der Oberflächentemperaturen im Nordostatlantik
Copernicus / EU

Angesichts dieser wenig normalen Lage warten zwei dänische Forschende mit einer weiteren Hiobsbotschaft auf. Laut den Berechnungen von Peter und Susanne Ditlevsen (beide Uni Kopenhagen) könnte der Golfstrom bereits Mitte dieses Jahrhunderts kollabieren, möglicherweise schon ab 2025. Diese neue Arbeit, die am Dienstag im Fachblatt "Nature Communications" erschien, widerspricht damit dem 6. Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC, dem zufolge das nordatlantische Zirkulationssystem im 21. Jahrhundert weiter bestehen wird.

Was ist von der neuen Studie zu halten? Wie gut abgesichert sind die düsteren Prognosen? Und welche Auswirkungen hätte ein Zusammenbruch der meridionalen Umwälzzirkulation im Atlantik (AMOC), wie der Golfstrom genau genommen wissenschaftlich genannt wird?

Energie von einer Million Kernkraftwerke

Beginnen wir mit dem Grundsätzlichen: Der Golfstrom ist eine der größten Meeresströmungen der Erde und gilt als die Wärmepumpe Nordeuropas. Ohne seine Wärmezufuhr, die in etwa der Stromproduktion von einer Million großer Kernkraftwerksblöcke entspricht, wäre es in weiten Teilen Europas fünf bis zehn Grad kälter. Der Zusammenbruch der AMOC, die als eine der globalen Kipppunkte gilt, hätte darüber hinaus schwerwiegende Auswirkungen auf das Klima auf der ganzen Welt.

Golfstrom AMOC Kollaps
Der Golfstrom transportiert gewaltige Mengen an warmem, salzhaltigem Wasser von der Südostküste der USA quer über den Atlantik bis nach Nordnorwegen. Zuletzt wurde er schwächer und instabiler. Aber droht auch schon sein Kollaps?
Nasa

Zuletzt gab es diesen abrupten Klimawandel während der sogenannten Dansgaard-Oeschger-Ereignisse in der letzten Eiszeit, schreibt das dänische Autorenduo. Damals kam es zu mittleren Temperaturschwankungen in der nördlichen Hemisphäre von zehn bis 15 Grad Celsius innerhalb eines Jahrzehnts, während wir aktuell bei etwas mehr als einem Grad seit einem Jahrhundert liegen. Etwas Ähnliches könnte uns bei einem AMOC-Kollaps im 21. Jahrhundert drohen.

Irgendwann zwischen 2025 und 2095

Für ihre neue Studie analysierten der dänische Klimaphysiker Peter Ditlevsen und die Biostatistikerin Susanne Ditlevsen die Meeresoberflächentemperaturen im Nordatlantik zwischen 1870 und 2020. Diese Aufzeichnungen haben den Vorteil, viel weiter zurückzureichen als direkte AMOC-Messungen, die erst 2004 begannen. In diesen Daten fand das Autorenduo Frühwarnsignale für einen kritischen Übergang des AMOC-Systems und vermutet, dass es bereits 2025 und spätestens 2095 zum Erliegen kommen oder zusammenbrechen könnte.

Konkrete Erklärungen für die bereits beobachtete und allgemein akzeptierte Verlangsamung und den befürchteten baldigen Kollaps geben die Ditlevsens zwar nicht. Ein Zusammenhang mit den steigenden CO2-Konzentrationen scheint ihrer Meinung nach aber wahrscheinlich; es könnten allerdings auch andere Mechanismen im Spiel sein. Und es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Zusammenbruch nur teilweise erfolgt.

Unterkomplexe Berechnungen?

Forschende, die nicht an der Studie beteiligt waren, äußern sich allerdings recht skeptisch gegenüber dieser doch sehr beträchtlichen Vorverlegung eines möglichen Zusammenbruchs des Golfstroms. So etwa kritisiert Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) die stark vereinfachenden Annahmen des Autorenduos bezüglich der mechanistischen Beschreibung der AMOC, die deren Komplexität "sicher nicht Rechnung trägt". Diese Unsicherheiten seien in der aktuellen Studie nicht ausreichend quantifiziert worden.

Die Verlangsamung der AMOC sei zumindest seit 2015 bekannt, und seit 2021 sei auch klar, dass sie an Stabilität verloren habe. "Alles darüber hinaus halte ich ehrlich gesagt für Spekulation." Schließlich kritisiert er auch die möglichen Folgen eines AMOC-Zusammenbruchs, die vom Autorenduo skizziert werden, als übertrieben: Statt zehn bis 15 Grad Temperaturschwankungen rechnet Boers mit "maximal acht Grad in den ganz hohen nördlichen Breiten. In Mitteleuropa sind es eher zwei bis fünf Grad Abkühlung, mit höheren Werten weiter im Norden. Es würde nach unserem aktuellen Verständnis auch sicherlich 50 Jahre dauern, eher länger, bis sich die Auswirkungen zeigen.“

Ähnlich methodenkritisch äußert sich Jochem Marotzke, Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg: Auch er hält die methodische Annahme für unangemessen, aus den Veränderungen eines Parameters – der Meerestemperatur – auf die plötzliche Veränderung des gesamten Systems zu schließen.

Kritik und verhaltene Zustimmung

Marotzkes Einschätzung: "Die aktuelle Arbeit liefert keinen Grund, an der Bewertung des 6. IPCC-Sachstandsberichts irgendetwas zu ändern: 'Es besteht mittleres Vertrauen darin, dass es vor 2100 nicht zu einem abrupten Zusammenbruch kommen wird.' Die in der nun erscheinenden Studie so zuversichtlich vorgetragene Aussage, es werde im 21. Jahrhundert zum Kollaps der AMOC kommen, steht auf tönernen Füßen.“

Eher zustimmend äußert sich hingegen Stefan Rahmstorf, Leiter des Forschungsbereiches Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK): Für ihn reiht sich die neue Untersuchung in frühere Studien ein, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen kamen: Es bestehe einerseits zwar immer noch große Unsicherheit hinsichtlich dessen, wo der Kipppunkt der AMOC liegt. "Aber die neue Studie ergänzt Evidenz dafür, dass er viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten." (Klaus Taschwer, 25.7.2023)