Tiktok-CEO Shou Zi Chew
Tiktok-CEO Shou Zi Chew arbeitet fieberhaft an der Umsetzung der ambitionierten Pläne – trotz starken Gegenwinds.
APA/AFP/BAY ISMOYO

Datenschützern in Europa rollt es die Nägel auf, wenn sie nur davon hören: Wechat. In China kann man mit der App eigentlich alles machen. Von der Essensbestellung über Reisebuchungen bis hin zur nächsten Jobbewerbung. Für all diese Dinge benötigt man in den USA oder Europa noch zig verschiedene Apps. Während Elon Musk offen darüber spricht, seine Nachrichtenplattform X (ehemals Twitter) zur, wie er es nennt, "everything app" zu machen, ist ein anderes Unternehmen schon viel weiter.

Tiktok, hierzulande vor allem wegen der lustigen Videos und gefährlichen Trends immer wieder im Gespräch, bastelt aktuell fleißig an genau dieser Idee. Im August wird man zumindest in den USA bereits einen Onlineshop, wie Amazon einer ist, in der App finden. Parallel dazu startet in ausgewählten Ländern die Möglichkeit, Tiktok als Whatsapp-Ersatz zu nutzen, also Text- oder Sprachnachrichten an Familie und Freunde zu schicken. Aber wie realistisch ist auch aus datenschutzrechtlicher Sicht eine solche App in Europa? Ist eine solche App wirklich wünschenswert für die Endkundin?

App für alles

"X ist der zukünftige Zustand unbegrenzter Interaktivität – mit Schwerpunkt auf Audio, Video, Messaging, Zahlungen/Banking – und schafft einen globalen Marktplatz für Ideen, Waren, Dienstleistungen und Möglichkeiten." Vor wenigen Tagen ließ Linda Yaccarino, die neue X-CEO, auf X wissen, wie sich das Unternehmen die Zukunft der App vorstellt, die einmal nur der Nachrichtendienst Twitter war.

Fans der Plattform hätten immer verlangt, dass Twitter "größer träumen" soll, und das würde mit X jetzt passieren. X wird die Plattform, die "alles" liefern wird können. Sie sei mit Elon Musk in engem Kontakt, um diese Vision mit dem Team in den nächsten Monaten umzusetzen.

Der größte Konkurrent

Während man von Musk und X bisher nur Ziele formuliert bekommt, aber noch wenig Greifbares, lässt die Konkurrenz aus China in Form von Tencents Wechat schon lange die Muskeln spielen. Der größte Herausforderer für die aktuell größte Super-App kommt ebenfalls aus China, jedoch im Gegensatz zum Mitbewerb bereits mit Standbeinen im Rest der Welt.

Bytedance heißt das Unternehmen, und mit der chinesischen Variante von Tiktok, Douyin, kann man schon jetzt nicht mehr nur 15 bis 30 Sekunden lange Videos aufnehmen, bearbeiten oder einfach anschauen. Während der Pandemie legte man nämlich den Schalter um und aktivierte In-App-Käufe in großem Stil. In großen chinesischen Städten konnte man auf einmal Essensbestellungen durchführen, egal ob fertig gekocht oder allein die Zutaten. Dazu gab es in der App das aktuelle Kinoprogramm, Restaurants oder Schönheitssalons, deren Services man auch direkt via App buchen kann.

In China hat sich dank dieser und anderer Apps der Begriff der "everything app" oder Super-App bereits etabliert. Nutzt man im Rest der Welt noch Whatsapp, Instagram, Paypal und viele andere Services, kombiniert die Super-App all diese Funktionen. Solch eine Super-App weltweit anbieten zu können, die chinesische Mauer durchbrechend, ist selbstredend das Ziel dieser Super-Apps.

700 Millionen Nutzerinnen hat man bereits mit Douyin, und das Angebot an Services steigt. Über die Jahre hat sich Bytedance Standbeine in der Games-Branche, im Onlineshopping, aber auch in Kooperationen mit Fluggesellschaften oder Hotels aufgebaut. Eine chinesische Finanzberatung prognostizierte Douyin für 2025 einen Umsatz von über 42 Milliarden Dollar allein mit Onlinebestellungen. Damit nähert man sich unaufhaltsam der Konkurrenz von Tencent und Alibaba.

Der größte Trumpf, den der Mitbewerb nicht hat, ist die Social-Media-Plattform Tiktok. Mit über einer Milliarde aktiven Nutzerinnen pro Monat weltweit hat man allein mit der Video-App eine enorme zusätzliche Reichweite. Der US-Berater Dave Xie meinte dazu gegenüber Bloomberg, dass Tiktok das Tor in andere Märkte sein könnte, das die anderen Hersteller nicht haben, da es bereits etabliert ist. Wenn man sämtliche an die Märkte angepassten Möglichkeiten von Douyin in Tiktok finden würde, dann wäre Bytedance von heute auf morgen Marktführer in Sachen Super-App.

Die Sache mit den Daten

Wie eingangs erwähnt, finden Datenschützer solche Super-Apps überschaubar wünschenswert. "Der Einblick in alle möglichen Lebensbereiche liefert auch fast allumfassende Möglichkeiten für Kontrolle und Überwachung", erklärt Petra Schmidt von Epicenter Works dem STANDARD. Schon in China sei zu beobachten, welche Zensurmöglichkeiten eine solche Zentralisierung ermöglicht. "So eine App wäre das primäre Ziel von Regierungen, da damit viele Lebensbereiche auf einen Schlag überwacht werden könnten." Menschen wie Elon Musk, die mit autoritären Regimen immer wieder "liebäugeln", sollten keinesfalls so viel Macht in den Händen halten, so Schmidt.

Da jede App ihr eigenes Geschäftsmodell habe, beispielsweise Hotelbuchungen, Kommunikation, Mobilität und Ähnliches, müssten sich die Firmen zusammenschließen, oder ein "großer Player hat so viel Investorengeld, dass er sich dauerhaft eine Quersubventionierung einzelner Dienste in einer großen App leisten kann". Als Beispiel nennt die Datenschützerin Uber, das aktuell Essen und Taxidienste anbietet. "Wir haben in Europa erst Regeln beschlossen, die das Zusammenführen von personenbezogenen Daten bei besonders großen Technologiefirmen erschweren, um die User:innen zu schützen", erklärt sie. Eine Super-App wäre da ein Schritt zurück.

Generell sei in den letzten Jahren eine zunehmende Konzentration der Unternehmen und Dienste zu beobachten gewesen. Die Idee ist laut Schmidt, "ein Quasimonopol über die Preise zu schaffen". Das sei heute schon Realität bei Fahrdiensten, wo eine Fahrt zu Stoßzeiten ein Vielfaches einer Taxifahrt kostet. Die Gefahr in der Zukunft sind dann "individualisierte Preise, die über Daten angepasst werden".

Hat eine Super-App also überhaupt eine Zukunft in Europa? Der Expertin zufolge müsste diese bestenfalls "privacy by design und Ende-zu-Ende-Verschlüsselung" bieten. So würden sich viele dieser Probleme gar nicht erst stellen. Ein Fokus auf Grundrechte und eine dezentrale Architektur, wie zum Beispiel bei der Plattform Mastodon, könnte Europa einen Vorsprung auf diesem Gebiet verschaffen.

Elon Musk Twitter X
Musk träumt von der Super-App X, aber der Weg dorthin ist noch ein weiter.
REUTERS/GONZALO FUENTES

Und Musk?

Elon Musk hat mit seinen Erfahrungen mit seiner Onlinebank X.com und der daraus resultierenden Plattform Paypal Erfahrungen im E-Commerce gemacht. Allein damit aus X eine App zu machen, über die US-Amerikaner und Europäer ihre Bankgeschäfte erledigen, ist jedoch noch ein weiter Weg. "Menschen vertrauen ihrem bekannten Ökosystem", beschrieb etwa der Finanzberater Davidson Oturu kürzlich die Problematik. "Fintechs haben es immer als schwierig empfunden, Kundinnen und Kunden von deren gewohnter Bank-App zu sich zu bringen."

In Sachen Nutzerzahlen liegt man ebenfalls weit hinter der Konkurrenz aus China. Aber auch Bytedance und andere müssten sich in Europa und den USA an etablierte Gewohnheiten und vor allem an neue Datenschutzrichtlinien anpassen. Bis zur ersten Super-App für Europa wird es also noch dauern. Ob am Ende Bytedance oder Musk das Rennen machen, sollte es wirklich dazu kommen, liegt dann wieder in der Hand der Konsumentinnen und Konsumenten. (Alexander Amon, 27.7.2023)