Ärztin misst Bauchumfang eines Patienten
Es ist kompliziert, und Gesundheit lässt sich nicht anhand eines einzigen Wertes bemessen. Am Ende muss man das Risiko immer individuell einschätzen. Der Taillenumfang etwa ist ergänzend zum Gewicht ein wichtiges Maß für die Bewertung der Gesundheit und sollte unbedingt gemeinsam mit dem BMI gemessen werden.
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Das Ergebnis einer aktuellen Studie klingt im ersten Moment paradox: Übergewicht soll das Leben verlängern. Das zeigt die Untersuchung von zwei Medizinern der Rutgers University in New Jersey, die die Gesundheitsdaten von etwa einer halben Million Menschen über einen Zeitraum von mehreren Jahren analysiert haben. Dabei zeigte sich, dass eine Gruppe von Menschen im Vergleich zum Rest ein geringeres Sterblichkeitsrisiko zu haben schien, nämlich jene, die übergewichtig waren – zumindest laut Body-Mass-Index (BMI). Liegt dieser Wert zwischen 25 und 29,9, gilt man als übergewichtig, ab einem BMI über 30 spricht man von Adipositas, also krankhafter Fettleibigkeit.

Die Studie aus New Jersey ist nur eine von vielen wissenschaftlichen Arbeiten, in denen der BMI nach wie vor als zentraler Parameter herangezogen wird. Der Wert ist einfach zu messen und dementsprechend kostengünstig in der Erhebung: Körpergewicht dividiert durch die Körpergröße zum Quadrat. In der Forschung lassen sich so Gesellschaftsgruppen einfach miteinander vergleichen. "Aber der BMI alleine reicht nicht, um Menschen nach unterschiedlichen Gesundheitsrisiken einzuteilen", stellt die Diätologin und Ernährungswissenschafterin Fiona Steinberger im Gespräch mit dem STANDARD klar. Wichtige Faktoren wie der Anteil an Körperfett, die Fettverteilung, der Taillenumfang oder der Anteil der Muskelmasse bleiben beim BMI unbeachtet.

Risiko bei zu wenig und bei zu viel

Ob übergewichtige Menschen tendenziell gesünder sind und länger leben als dünne Leute, darüber streitet man in der Medizin seit Jahrzehnten. Das sogenannte Übergewichtsparadoxon lässt – ebenso wie Studien auf Basis des BMI – häufig viele Faktoren außer Acht. In vielen Erhebungen wird beispielsweise nicht erhoben, wie gesundheitsbewusst die Probandinnen und Probanden leben, wie viel Alkohol sie trinken, wie viel Bewegung sie machen, ob sie rauchen oder nicht. Dass Rauchen den Appetit verringert, weiß man in der Forschung schon lange. Raucherinnen und Raucher haben deshalb häufig ein niedrigeres Körpergewicht als Menschen, die nicht rauchen – aber dadurch natürlich auch eine erhöhte Sterblichkeit. In manchen Studien zum Körpergewicht wird das außen vor gelassen, das Fazit ist dann: Dünnere Menschen haben eine höhere Mortalität als dickere Menschen. Dabei hängt das Sterblichkeitsrisiko nicht mit dem Gewicht, sondern mit dem Zigarettenkonsum zusammen.

Eine im Jahr 2018 im "European Heart Journal" veröffentlichte Studie berücksichtigte genau diese für die Gesundheit relevanten Faktoren. Das Ergebnis: Auch leichtes Übergewicht war mit einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden. Am gesündesten sei ein BMI zwischen 22 und 23, so die Autorinnen und Autoren der Studie. "Man sieht, dass das Sterblichkeitsrisiko sowohl bei einem sehr niedrigen als auch bei einem sehr hohen BMI erhöht ist", sagt die Diätologin Steinberger.

Gewichtsverteilung entscheidend

Dass bei einem BMI von 30 oder mehr das Risiko etwa für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöht ist, darüber herrscht wissenschaftlicher Konsens. Aber auch das gilt freilich nicht für alle: "Ein Kraftsportler mit viel Muskelmasse wird laut BMI adipös sein. Aber natürlich ist das Risiko von Krankheitsbildern, die mit Fettleibigkeit einhergehen, für ihn nicht erhöht", erklärt Steinberger.

Als Maß für Gesundheit noch unzureichender wird der Wert, wenn es um übergewichtige Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 geht. "Übergewicht ist keine chronische Erkrankung, Adipositas schon", betont die Ernährungswissenschafterin. "Ein als übergewichtig klassifizierter BMI erhöht nicht zwingend die Sterblichkeit, insbesondere bei älteren Erwachsenen. Es sind immer die Fettmasse und die Fettverteilung ausschlaggebend."

In Studien sollte deshalb nicht nur die Gewichtsverteilung, sondern auch der Gewichtsverlauf berücksichtig werden, findet die Expertin. Ein wichtiger Wert wäre beispielsweise der Taillenumfang. Auf Basis dessen könnte man ablesen, ob das Fett vorwiegend im Bauchraum ist. "Denn dieses sogenannte viszerale Fett bringt ein erhöhtes Risiko für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten mit sich." In der Praxis arbeitet sie mit einer BIA-Waage (Bioelektrische Impedanzanalyse), das ist eine Waage, die das Gewicht in Fettanteile, Muskelmasse, Wasser etc. aufschlüsselt. Aber auch diese Werte könnte man nicht ohne weiteres als Basis für einen objektiven Vergleich heranziehen: "Männer haben bei einem Körperfettanteil von über 25 Prozent ein gesundheitliches Risiko, Frauen erst bei einem Fettanteil von über 32 Prozent."

BMI orientiert sich am weißen Mann

Das macht die Sache mit dem BMI auch so schwierig, denn "der Wert orientiert sich wie so vieles in der Medizin an einem weißen Mann", erklärt Steinberger. Er wurde im 19. Jahrhundert auf Basis von Franzosen und Schotten entwickelt. Ein Mathematiker wollte einen Parameter schaffen, der verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander vergleichbar macht. Eigentlich wurde der Wert dann aufgrund seiner Unzulänglichkeiten rasch wieder verworfen – bis ihn im 20. Jahrhundert ein Versicherungsanbieter wieder aufleben ließ, um die Kundinnen und Kunden in unterschiedliche Risikogruppen einzuteilen: je höher der BMI, desto höher die Versicherungsbeiträge.

Aber der BMI eignet sich nicht wirklich, um Bevölkerungsgruppen miteinander zu vergleichen. Die Grenzwerte können nicht auf alle Menschen gleichermaßen umgelegt werden. "In der afroamerikanischen Bevölkerung ist die Muskelmasse tendenziell höher ", berichtet Steinberger. Das heißt, auch wenn der BMI ähnlich ist wie bei der zentraleuropäischen Bevölkerung, ist der Anteil an Muskelmasse oft deutlich höher. Lateinamerikanische Menschen neigen hingegen eher dazu, um den Bauch zuzunehmen. Dadurch tauchen in dieser Bevölkerungsgruppe eher Begleiterkrankungen auf. Die asiatische Bevölkerung ist tendenziell schlanker und hat dementsprechend andere Grenzwerte. "Es könnte also bei asiatischen Menschen auch schon bei niedrigeren BMI-Werten zu einem erhöhten Krankheitsrisiko kommen. Sie gelten deshalb bereits ab einem BMI von über 25 als adipös", sagt Steinberger. Kurzum: Es ist kompliziert, und Gesundheit lässt sich nicht anhand eines einzigen Wertes bemessen. Am Ende sei das Risiko immer individuell einzuschätzen. "Wenn man mal ein paar Kilo zu viel hat, die Blutwerte und das Verhältnis von Fett zu Muskelmasse aber passen, dann wird das kein riesiges Problem sein", beruhigt Steinberger. "Das ist aber, überspitzt formuliert, kein Freibrief, jeden Tag gebackenen Leberkäse zu essen." (Magdalena Pötsch, 30.7.2023)