Wer seine Lebenszeit spendet, wird großzügig belohnt: Mit diesem zweifelhaften Versprechen wirbt das Unternehmen Aeon. "Der Eingriff ist minimalinvasiv und wird täglich in unseren Kliniken durchgeführt. Mach noch heute den DNA-Test. Wir finden den passenden Empfänger für dich!"

Viel Geld für nicht viel weniger Lebenszeit? Klingt super. Das denkt sich der 18-jährige Denis, als ihm Spendenmanager Max das Blaue vom Himmel vorschwärmt. 700.000 Euro gibt's dafür. Was er und seine Eltern mit Migrationshintergrund alles kaufen könnten! Denis stockt. Drei oder vier Jahre, das wäre ja noch okay. Aber 15 Jahre herzugeben, einfach so. 18 plus 15 ergibt 33. "Damit kannst du deine ganze Familie rauskriegen", rechnet Max dem jungen Mann vor. Und der unterschreibt.

Iris Berben handelt als mächtige Managerin mit der Lebenszeit von Menschen.
Iris Berben handelt als mächtige Managerin mit der Lebenszeit von Menschen.
Netflix

Was wäre, wenn Mozart 80 Jahre alt geworden wäre? Ebenso Friedrich Schiller, Frida Kahlo, Nelson Mandela, Marie Curie, Albert Einstein und andere Genies – was hätten sie nicht alles noch erreichen können? Die Zeit anzuhalten und den Tod zu überwinden, mit diesem Heilsversprechen tritt Sophie Theissen, Gründerin und CEO der mächtigen Pharma- und Beautyfirma Aeon, an. Als seien wir nicht mehr weit davon entfernt, erzählt "Paradise" auf Netflix die Story von (gestohlener) Zeit in heutig anmutendem Umfeld. Ganz so, als seien derartige Operationen schon möglich.

PARADISE | Official Trailer | Netflix
Trade your life for money: In the not-too-distant future, a method of transferring years of your life from one person to another has changed the world forever and turned biotech start-up AEON into a billion-dollar pharmaceutical company. Starring Kostja Ullma
Netflix

Aeon-Keiler Max ist also gut in dem, was er tut. Das Haus feiert ihn als "Donationmanager des Jahres", auch die charismatische Chefin – mit ihrem wallenden weißen Haar eine Art Antithese zu Gandalf, dargestellt von Iris Berben – steht in der ersten Reihe und applaudiert, wenn auch mit versteinerter Miene. Sie hat einen Millionenmarkt aufgetan, bei dem sich Reiche Lebensjahre kaufen und Unterprivilegierte aus Notsituationen freikaufen. Es ist ein zynisches Geschäft, es könnte allerdings besser laufen, finden die jungen Stakeholder. Für Ideologie ist kein Platz. Jede und jeder bekommt, was er verdient.

Gleichgewicht des Schreckens

In diesem Gleichgewicht des Schreckens fährt eine Terrorgruppe dazwischen, die mit der Pharmagruselshow ganz und gar nicht einverstanden ist. Ein Attentäter richtet im Hauptquartier ein Massaker an. Fast zeitgleich brennt die schicke Berliner Wohnung von Max und seiner Frau Elena (Kostja Ullmann, Marlene Tanczik, später: Corinna Kirchhoff) ab. Schuld war eine Kerze, die Versicherung zahlt nicht. Und aus dem Erfolgsmenschen Max wird plötzlich ein Schuldner mit zwei Millionen Euro im Minus. Elena wartet mit einem kleinen Detail am Rande auf: Sie hat bei der Bank eine Sicherheit hinterlegt, doch die hat einen hohen Preis. Elena hat ihre Lebenszeit eingesetzt – runde 40 Jahre. Wenn sie die nicht einhalten kann, steht eine Zwangsvollstreckung bevor. Das bedeutet: Geld gegen Jahre.

Alt werden will jeder, alt sein keiner. Ersteres findet für Max und Elena nicht statt, Letzteres kommt zu plötzlich – klassische Lose-lose-Situation. Alt und Jung verträgt sich nicht, das müssen die beiden verstehen. Nicht damit abfinden will sich Max, sondern das Unmögliche möglich machen und die Zeit zurückdrehen. Wie kommen sie da raus? Schwierig bis gar nicht, so will es dieser düstere Thriller, inszeniert von Regisseur Boris Kunz – das Drehbuch schrieb er zusammen mit Peter Kocyla und Simon Amberger.

Ungewisse Zukunft

"Paradise" spielt mit einem überzeichneten Zukunftsentwurf, der sich trotzdem realistisch anfühlt, weil er in einem uns bekannten Umfeld passiert. Hier sind nicht ferne, fantastische Welten Schauplatz des Geschehens, sondern zeitnahe Geschehnisse, die in der Form zwar futuristisch, aber doch vorstellbar wirken sollen. In eine ähnliche Richtung gehen etwa Serien wie "Black Mirror", "The Handmaid's Tale – Der Report der Magd", Stefan Ruzowitzkys "8 Tage" oder das schwedische "The Rain". Nicht allen gelingt es, auf übersäuerte moralische Ansprüche zu verzichten. Auch "Paradise" ist nicht frei davon. Aber die Ungewissheit der Zukunft hat durchaus etwas Beängstigendes, und angesichts von Anti-Aging-Start-ups im Silicon Valley, in die Superreiche wie Google-Mitgründer Larry Page und Amazon-Chef Jeff Bezos schon länger investieren, ist moralische Sorge durchaus angebracht.

Eines ist aber klar: Für Iris Berben ist "Paradise" nach "Triangle of Sadness" die nächste eindrucksvolle Performance, nämlich die einer vielschichtigen Figur. Frauen werden in Filmen und Fernsehen ab einem gewissen Alter meist unsichtbar oder stecken in Rollenklischees fest. Eine undurchsichtige, mächtige Managerin im reiferen Alter gehört definitiv nicht dazu. (Doris Priesching, 28.7.2023)