Der Chef der Erste Group, Willibald Cernko, im Gespräch an einem Tisch im Erste-Bank-Campus beim Wiener Hauptbahnhof.
"In Österreich wird die Aktie ideologisch verbrämt und dämonisiert": Erste-Bank-Chef Willibald Cernko.
Regine Hendrich

Mit 65 Jahren wurde Willibald Cernko Chef der Erste Group, nachdem sein Vorgänger unerwartet gegangen war. Bald soll feststehen, wer ihm folgt.

STANDARD: Ihr Vertrag läuft noch bis Ende nächsten Jahres. Er wird wohl nicht verlängert werden?

Cernko: Mein Job ist es, für eine reibungslose Übergabe zu sorgen. Entscheidend ist, eine langfristige Nachfolgeregelung zu finden, und damit beschäftigt sich der Aufsichtsrat. Ich gehe davon aus, dass das heuer im vierten Quartal passieren wird.

STANDARD: Wird Ex-Erste-Bank-Österreich-Chef Peter Bosek, dem 2020 Bernd Spalt als Erste-Group-Chef vorgezogen wurde, zurückkommen?

Cernko: Ich bin nicht Mitglied des Aufsichtsrats.

STANDARD: Sie sind seit einem Jahr Vorstandschef, seit Bernd Spalt die Bank überraschend verlassen hat. Was haben Sie denn bisher erreicht?

Cernko: Bernds überraschender Abgang hat eine Irritation im Haus ausgelöst, und es ging mir darum, rasch die Arbeit für unsere Kunden wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist gelungen. Wir haben weitere Schritte bei der Digitalisierung gesetzt, und es wird künftig darum gehen, immer besser qualifiziertes Personal zu bekommen für jene Themen, wo Kunden mit Mitarbeitern reden wollen. Diesen Mehrwert müssen wir liefern, und da geht es um Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung.

STANDARD: Welche Rolle wird die künstliche Intelligenz (KI) spielen?

Cernko: Sie kann uns helfen, kundenbezogene Prozesse noch effizienter und angenehmer für den Kunden zu machen. Und sie kann für unsere Beraterinnen und Berater so etwas wie ein nützlicher Assistent werden. Wir freuen uns auf die KI, denn sie kann uns helfen, noch besser zu werden. Aber natürlich braucht ihr Einsatz auch Regeln.

STANDARD: Die Bank hat schon lang keine große Übernahme mehr getätigt. Das überlassen Sie Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger?

Cernko: Das sehe ich anders. Wir haben neben Zukäufen in Ungarn auch das Sberbank-Portfolio in Tschechien mit einem Volumen von 1,4 Milliarden Euro übernommen. 300 Millionen Euro davon entfallen auf Geschäft mit Unternehmenskunden, der Rest vor allem auf Wohnraumfinanzierungen für Privatkunden.

Das Firmenlogo der Sberbank Europe in Wien.
Die Erste hat der Sberbank-Europe-Tochter in Tschechien Assets im Volumen von 1,4 Milliarden Euro abgekauft.
APA/Roland Schlager

STANDARD: Hatten Sie ein schlechtes Gewissen, Assets einer sanktionierten Bank mit russischer Mutter zu kaufen?

Cernko: Nein. Wir haben das ja nicht mit der Sberbank verhandelt, sondern das kam vom Masseverwalter und war Teil der Liquidation der lokalen Tochterbank. Zukäufe werden wir weiterhin machen, das gehört zu unserer Wachstumsstrategie. Ob es auch große Akquisitionen geben wird wie Bankkäufe, ist schwer abschätzbar, aber wir haben keinen Druck. Wenn, dann müsste das Geschäftsmodell unserem sehr ähnlich sein.

STANDARD: Die Erste-Group ist groß genug?

Cernko: Ja. Wir sind groß genug, unsere Möglichkeiten über die Landesgrenzen hinweg zu nutzen, das ist gerade beim digitalen Banking wichtig. Und das tun wir.

STANDARD: Im September feiern Sie 25 Jahre Börsengang (IPO) der Ersten, der fand aber vor fast 26 Jahren statt ...

Cernko: Die Feier wurde wegen der Pandemie verschoben. Aber es ist ein guter Grund zu feiern.

STANDARD: Haben Sie ein Geschenk für die Bank oder Andreas Treichl, der Motor des IPO war? Sie waren damals ja beim Erzrivalen Bank Austria.

Cernko: Ja, ich war bei der Konkurrenz, und wir haben das, was unter dem Kommando Treichls passiert ist, unterschätzt. Andere sahen es als viel zu riskant an. Wir haben das mäßig ernst genommen. Aber was da entstanden ist, ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Und: Ich schenke meine Arbeitskraft.

STANDARD: Die kostet einiges.

Cernko: Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist in Ordnung.

STANDARD: Rasend viel ist seit 1997 auf Österreichs Kapitalmarkt nicht geschehen. Was tun dagegen?

Cernko: Das ist das herausforderndste Problem, das wir angesichts der Transformation der Wirtschaft haben. Nachhaltige Wirtschaft ohne funktionierenden Kapitalmarkt wird es nicht geben. Mit der Kapitalmarktunion sind die EU und auch viele nationale Regierungen völlig im Hintertreffen. Es ist unmöglich, diese Transformation nur mit Förderungen und Bankkrediten zu stemmen. Dabei verfügen die privaten Haushalte in der EU über 10.000 Milliarden Euro an Bargeld und Bankguthaben – und für die Nachhaltigkeitstransformation brauchen wir bis 2030 rund 500 Milliarden Euro an privaten Investitionen. Das Geld ist verfügbar, wir brauchen es im Kapitalmarkt.

STANDARD: Sonst wird die EU international abgehängt?

Cernko: Schauen Sie sich die Zahlen an: Die US-Volkswirtschaft ist in den vergangenen drei Jahrzehnten um 330 Prozent gewachsen, die europäische um 168 Prozent. Im Vergleich zu Amerika fährt Europa bei der Entwicklung also mit halber Geschwindigkeit. Der Anteil der USA an der weltweiten Wirtschaftsleistung BIP ist mit rund einem Viertel gleichgeblieben, Europa ist von 27 auf 17 Prozent gefallen, China ist heute circa gleichauf mit Europa.

STANDARD: Kann die Belebung der Kapitalmärkte daran viel ändern?

Cernko: Der Kapitalmarkt ist ein Turbo für die Wirtschaft, und ich verstehe nicht, warum man den nicht nützt. In Österreich diskutieren wir seit Monaten, die Kapitalertragssteuer auf Wertpapiererträge zu streichen und dafür eine Behaltefrist einzuführen. Gäbe es das, würden mehr private Investoren einsteigen. Das tun sie sicher nicht, solange der Kapitalmarkt nur als Zockerpartie gesehen wird. In Österreich besitzen nur acht Prozent der privaten Haushalte Aktien, die Aktie wird immer noch ideologisch verbrämt und dämonisiert.

STANDARD: Österreich wird von der Wirtschaftspartei ÖVP mitregiert, sie müsste das alles doch fördern?

Cernko: Man würde es vermuten, ja.

STANDARD: Wahrscheinlich gehen Kanzlervideos zum Thema "Normal" besser als solche über den Kapitalmarkt.

Cernko: Ich fürchte, da werde ich Ihnen nicht widersprechen können.

STANDARD: Was halten Sie denn von der gerade diskutierten 32-Stunden-Woche? Die Wirtschaftskammer schließt die aus.

Cernko: Damit werden wir nicht nach vorn kommen, sondern uns rückwärts katapultieren. Weil die Produktivität darf nicht sinken – und wir werden die Leute nicht finden, die den Rest der Zeit auffüllen.

Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat die FMA im Zusammenhang mit der vom Finanzmarktstabilitätsgremium vorgegebenen KIM-Verordnung als
Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat die FMA im Zusammenhang mit der vom Finanzmarktstabilitätsgremium vorgegebenen KIM-Verordnung als "stur" kritisiert.
APA/Hans Klaus Techt

STANDARD: Stichwort Kreditvergabe für Wohnimmobilien, KIM-Verordnung. Banken und Politik laufen Sturm gegen die Regelungen, Sie auch als Bankenobmann in der Wirtschaftskammer. Was ist schlimm daran, zu verhindern, dass sich Kreditnehmer über beide Ohren verschulden?

Cernko: Das ist eine liebevoll gepflegte Legende. Es geht darum, Menschen dabei zu unterstützen, Wohnraum zu schaffen. Wir wollen nicht die Spekulation fördern, sondern nur eigengenützte Wohnungen und Häuser finanzieren, und damit sind wir immer verantwortungsvoll umgegangen. Bei Einführung der KIM-Verordnung wollten wir ein paar Erleichterungen, damit sind wir nicht durchgekommen. Heute, angesichts steigender Zinsen, stagnierender Immobilienpreise und hoher Inflation, gibt es keinen Grund mehr für die Verordnung, man muss die Kreditverschärfung komplett streichen. Ich werde mit allen reden und bleibe auf dem Thema drauf. Wir haben genug Spielregeln und Transparenz, sodass die Aufsicht jederzeit einschreiten kann. Es geht nur um Leute, die ein eigenes Dach über dem Kopf, eigene vier Wände haben wollen.

STANDARD: Hat jeder Mensch ein Recht auf eine Eigentumswohnung?

Cernko: Nein, aber man soll den Erwerb ermöglichen und nicht erschweren. Unter den jetzigen Rahmenbedingungen sind die Vorgaben der Aufsicht überschießend.

STANDARD: Die Inflation ist sehr hoch, die Wirtschaftsprognosen sind nicht sehr rosig. Sehen Sie da gröbere dräuende Probleme?

Cernko: Nein, die Wirtschaft wird wachsen, die Kreditrisiken sind gering, und das wird auch in den nächsten zwei, drei Jahren so bleiben. Und es gibt Geld aus Fonds, um die Transformation der Wirtschaft voranzubringen. Bremsen könnte das der extrem ausgetrocknete Arbeitsmarkt. Außer wir finden zu einer andren Zuwanderungspolitik. Natürlich würde ich mir auch wünschen, dass es unter der spanischen Ratspräsidentschaft gelingt, den Schengen-Beitritt von Rumänien endlich möglich zu machen.

STANDARD: Die Rot-Weiß-Rot-Card reicht für Österreich nicht?

Cernko: Wir müssen sicherstellen, dass wir an die talentierten Leute kommen, die Europa braucht. Da geht es auch darum, tolle IT-Leute aus dem sonnigen Kalifornien für eine Zeitlang zu uns zu holen, Familien zur Übersiedlung hierher zu bewegen. Wir sollten nicht mehr an der Rot-Weiß-Rot-Card herumschrauben, sondern interessante Arbeitsbedingungen bieten. Die guten Leute und die Jungen, die Ideen umsetzen und Unternehmen gründen wollen, gehen dorthin, wo sie attraktive Rahmenbedingungen vorfinden. Die Jungen jedenfalls brauchen den Kapitalmarkt, Risikokapital, Investments von Privaten – denn wir Banken sind heutzutage aus regulatorischen Gründen gar nicht in der Lage, Geschäftsideen in einer frühen Phase mit Kredit zu finanzieren. Die Banken kommen erst, wenn sich ein Geschäft schon etabliert hat. Wir haben ein anderes Spiel zu spielen. (Renate Graber, 28.7.2023)