Schan Belenjuk wurde 1991 in Kiew als Sohn eines ruandischen Vaters und einer ukrainischen Mutter geboren. Sein Vater studierte damals an der National Aviation University der Hauptstadt, wo er zum Piloten ausgebildet wurde. Seine Mutter arbeitete als Näherin. Mit dem Ringen begann Belenjuk im Alter von neun Jahren. Mit 15 wurde er erstmals zum Training ins Olympiazentrum in Kontscha Saspa eingeladen. Der Start einer Karriere, zu deren Höhepunkten unter anderem zwei Siege bei Weltmeisterschaften (Las Vegas 2015, Nur-Sultan 2019) und eine olympische Goldmedaille (Tokio 2021) zählen.

Während sich seine Karriere auf der Matte als äußerst erfolgreich erwies, scheiterte sein Versuch, Chef des Nationalen Olympischen Komitees zu werden. Im Jänner 2023 verließ Belenjuk die Organisation wegen Meinungsverschiedenheiten mit ihrem neuen Präsidenten Wadym Gutzeit.

Zhan Beleniuk
Schan Belenjuk, nicht nur Star im Spitzensport, sondern nunmehr auch politisch für seine Heimat Ukraine aktiv.
imago images/Sven Simon

Weil sein Vater, der 1994 nach Ruanda zurückgekehrt war, kurz nach Ende des dortigen Bürgerkriegs starb, wuchs Belenjuk in der Obhut seiner Mutter auf, mit der er sich in Kiew eine Einzimmerwohnung teilte. Als Kind und als Teenager litt er regelmäßig unter rassistischen Angriffen. Der bisher letzte ereignete sich erst vor zwei Jahren: 2021 wurde Belenjuk in Kiew auf der Straße von einer Gruppe Jugendlicher konfrontiert, die ihn einen "schwarzen Affen" nannten und ihm sagten, dass er "nach Afrika gehen soll". Damals kommentierte Belenjuk den Vorfall auf Facebook so: "Ich frage mich, ob ich in den Augen meines Staates ein 'richtiger' Ukrainer bin; welche Kriterien für Patriotismus es gibt. Kann sich ein Olympiasieger in seinem Heimatland und in seiner Heimatstadt sicher fühlen? (…) Ist es in einem europäischen Staat normal, solche Beleidigungen zu hören?!"

Präsident Wolodymyr Selenskyj verurteilte die Beleidigungen in den sozialen Medien ebenso umgehend wie scharf: Er nannte Belenjuk "einen der würdigsten Söhne der Ukraine" und befahl der Polizei, "einzugreifen, um solche inakzeptablen rassistischen oder fremdenfeindlichen Beleidigungen künftig zu verhindern".

Auf der russischen "Todesliste"

Laut Berichten ukrainischer Medien fand sich der Name Belenjuks – wie die Namen zahlreicher anderer Abgeordneter seiner Partei – zu Beginn der russischen Invasion der gesamten Ukraine auf einer sogenannten Todesliste des Geheimdienstes FSB wieder. Was unter anderem dazu führte, dass der heute 32-Jährige seine Wohnung monatelang nur schwerbewaffnet verlassen konnte. Einschüchtern ließ er sich davon nicht. Seit dem 24. Februar 2022 trug Belenjuk dazu bei, tausende Vertriebene aus dem ganzen Land zu ernähren und umzusiedeln. Neben seinen parlamentarischen Aufgaben schlüpft er seitdem auch bisweilen in die Rolle eines diplomatischen Gesandten, der hauptsächlich in afrikanischen Ländern ukrainische Interessen vertritt.

STANDARD: Herr Belenjuk, wir sprechen zu einem Zeitpunkt, an dem die lang erwartete Gegenoffensive laut der ukrainischen Führung in vollem Gang ist. Wo stehen wir nach 18 Monaten seit Beginn der russischen Invasion in der gesamten Ukraine?

Belenjuk: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Was ich weiß, ist, dass wir in diesem Moment Geduld brauchen und dass wir an den Sieg glauben. Die Unterstützung für unser Militär ist unerschütterlich und wird es bleiben, bis wir auch den letzten Besatzer vertrieben haben. Das Wichtigste, was ich Ihren Leserinnen und Lesern in diesem Zusammenhang sagen möchte, ist, dass die Aufmerksamkeit, die unser Land von unseren westlichen Partnern bekommt, nicht nachlassen darf. Jeder und jede muss verstehen, dass der Krieg noch nicht vorbei ist und dass wir ihn gewinnen müssen – und das werden wir auch, aber wir brauchen Ihre Unterstützung.

STANDARD: In den ersten Monaten nach Kriegsausbruch gab es Berichte darüber, dass Sie Ihr Haus nur mit mehreren Pistolen bewaffnet verlassen konnten. Ist das nach wie vor so?

Belenjuk: (lacht) Nein. Ich habe diese Waffen zwar noch, aber das mache ich nicht mehr wirklich. Es war damals eine andere, sehr gefährliche Zeit. Die russischen Truppen waren bis in die Umgebung von Kiew vorgedrungen. Seitdem haben wir sie in die östlichen und südlichen Teile des Landes zurückgedrängt, die sie bis heute besetzen. Aber für die Hauptstadt besteht keine unmittelbare Bedrohung mehr, außer, dass wir ständig mit Raketen und von Drohnen aus bombardiert werden. Ich übe aber immer noch einmal pro Woche das Schießen. Lernen, mit einer Waffe umzugehen ... Im Kino sieht es so einfach aus, aber im wirklichen Leben ist das eine andere Geschichte.

STANDARD: Vor der Invasion hatten Sie eine erfolgreiche Karriere als Ringer. Seit 2019 sind Sie Mitglied des ukrainischen Parlaments. Wie sehr hat sich Ihr Leben seit dem 24. Februar 2022 verändert?

Belenjuk: Mir ist mehr als je zuvor klar geworden, dass ich mehr für mein Land tun muss, als nur zu versuchen, olympische Medaillen zu gewinnen und als Politiker gut zu arbeiten. Seit Kriegsbeginn habe ich viel Zeit darauf verwendet, mich um Flüchtlinge zu kümmern und Menschen zu helfen, die alles verloren haben. Heutzutage trainiere ich noch ein bis zwei Stunden pro Tag. Meine Prioritäten haben sich also geändert, genauso wie sich der Sitzungsplan des Parlaments wegen des Kriegs ständig ändert.

Was meine Karriere als Ringer angeht: Wie viele andere ukrainische Sportler befinden wir uns derzeit in einer Art Schwebezustand. Alle sind besorgt darüber, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC) Russen und Belarussen erlaubt, unter neutraler Flagge anzutreten, während ihre Landsleute unser Land verwüsten und uns alle töten wollen. Unser Nationales Olympisches Komitee (NOK) hat zudem keine gute Arbeit geleistet, was seine Kommunikations- und Informationspolitik angeht. Leider hat das in der Ukraine Tradition – weshalb ich mich Anfang des Jahres dafür eingesetzt habe, die Leitung des NOK selbst zu übernehmen. Aber ich habe gegen die Person verloren, die jetzt das Sagen hat. Ich kann deshalb nur sagen, dass die Dinge anders laufen würden, wenn ich das Sagen hätte. Ich bin etwa der festen Überzeugung, dass man die Entscheidung, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen oder nicht, jedem Athleten und jeder Athletin selbst überlassen sollte.

STANDARD: Können Sie das näher erläutern?

Belenjuk: Ich glaube, dass es jedem Athleten und jeder Athletin, der oder die gegen Russen oder Belarussen antreten will – ungeachtet der Sportart – erlaubt werden soll, das zu tun, ohne Angst vor Sanktionen haben zu müssen. Natürlich wird es selbst in diesem Fall nie zu einem Handshake kommen. Andererseits: Wenn ein ukrainischer Athlet oder eine Athletin nicht gegen Russen oder Belarussen antreten möchte, muss man diese Position ebenso respektieren. Was ich sagen will: Die Annahme, dass die Leute, die unser Sportministerium und andere sportpolitische Gremien leiten, patriotischer sind als die Sportlerinnen und Sportler, die unser Land repräsentieren, ist einfach nur lächerlich.

STANDARD: In der Vergangenheit haben Sie mehrmals darüber gesprochen, wie Sie in Ihrem Heimatland rassistisch angegriffen wurden. Als Präsident Wolodymyr Selenskyj Sie bat, auf diplomatischer Mission nach Südafrika und Ruanda zu reisen, um dort für Unterstützung für die Ukraine zu werben, haben Sie seiner Bitte trotzdem entsprochen. Wie bringen Sie das unter einen Hut?

Belenjuk: Als Kind wie als Jugendlicher wie als Erwachsener war ich tatsächlich oft mit Rassismus konfrontiert. Die Leute beschimpften mich mit dem N-Wort, und ich habe andere, schlimme Sachen erlebt. Aber je älter und erfahrener man wird, umso mehr realisiert man, dass es in jedem Land Idioten gibt. Als Afro-Ukrainer kann ich Ihnen versichern, dass die breite Mehrheit der Ukrainer adäquate Menschen sind. Anders als in Russland, das behauptet, gegen Nazis zu kämpfen – wo es aber regelmäßig Fälle gibt, in denen Schwarze wegen ihrer Hautfarbe verprügelt und getötet werden.

Was meine Reise nach Afrika angeht: Ich habe mich dafür entschieden, weil ich ein lebendiges Beispiel dafür bin, dass die Ukraine ein tolerantes Land ist. Deshalb bin ich auch Mitglied des Parlaments geworden. Klar, wenn wir manchmal die Kommentare lesen, die bestimmte Leute online posten, kann es sein, dass man einen falschen Eindruck bekommt. Aber diese Leute sind eben nicht repräsentativ für die ukrainische Gesellschaft als Ganzes.

Zhan Beleniuk bei einem Vortrag in Südafrika
Schan Belenjuk bei einem Vortrag in Südafrika im Oktober 2022.
EPA/NIC BOTHMA

STANDARD: Welche Erfahrungen haben Sie in Südafrika gemacht? Vor allem angesichts dessen, dass Russland jahrelang weltweit rassistische und rechtsextreme Bewegungen ideologisch wie finanziell unterstützt hat, Pretoria, Kapstadt und Bloemfontein aber trotzdem immer noch gute Beziehungen zu Moskau unterhalten?

Belenjuk: Meiner persönlichen Erfahrung nach verstehen die meisten Südafrikaner die Situation der Ukraine voll und ganz und unterstützen sie entsprechend. Bei einigen südafrikanischen Politikern – nicht allen, aber einigen – ist das wegen der traditionell starken historischen Verbindungen und der massiven russischen Propaganda leider anders. Wir alle wissen, wie erfolgreich die Russische Föderation dabei ist, Politiker auf der ganzen Welt zu korrumpieren. Bei weitem nicht nur in Afrika, sondern in ganz Europa und auch auf anderen Kontinenten. Als ich in Afrika war, habe ich entsprechend versucht, den Leuten zu zeigen, dass die Russen lügen, wenn sie sagen, dass alle Ukrainer Rassisten und Nazis seien. Wenn das wirklich der Fall wäre, wäre jemand wie ich wohl kaum ein Mitglied der Werchowna Rada (Parlament der Ukraine, Anm.).

STANDARD: Und wie war es in Ruanda, das Sie im Rahmen Ihrer diplomatischen Mission ebenfalls besucht haben und wo Ihr Vater begraben liegt?

Belenjuk: Es war anders, aber ebenfalls sehr lehrreich. Es war eine große Ehre, in dieser offiziellen Funktion nach Ruanda zurückzukehren. Ich war vorher nur einmal dort. 2017 habe ich meine Verwandten und das Grab meines Vaters besucht. Er war in den Neunzigerjahren ins Land zurückgekehrt, kurz nach Ende des Bürgerkriegs. Ich habe keine Erinnerung an ihn, aber mir wurde erzählt, dass er Politiker werden wollte. Er wollte dazu beitragen, dass die verfeindeten ethnischen Gruppen miteinander Frieden schließen und die Verantwortlichen für die dort begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gebracht werden.

Jahrzehntelanger Konflikt

Wissen Sie, in Ruanda begann der Kampf zwischen Hutu und Tutsi in Wahrheit schon hundert Jahre zuvor, und er war im Wesentlichen eine Folge des deutschen und belgischen Kolonialismus. Offiziell ist mein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen, aber viele Menschen in Ruanda glauben das nicht. Sie glauben bis heute, dass er ermordet wurde.

STANDARD: Abgesehen davon, die Russen aus dem Land zu werfen, stehen der Nato- und der EU-Beitritt ganz oben auf der Agenda der Selenskyj-Regierung. Aber wie realistisch ist das kurzfristig, wenn man bedenkt, dass die Ukraine bis vor kurzem unter erheblichen Problemen gelitten hat, vor allem unter einer scheinbar alle Gesellschaftsschichten durchdringenden Korruption?

Belenjuk: Was die Korruptionsbekämpfung und die Umsetzung von Gesetzen angeht, die EU-Standards entsprechen, müssen wir tatsächlich noch viele unserer "Hausaufgaben" machen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir das schneller schaffen, als viele heute glauben. Sie dürfen die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass wir bereits sehr viele Schritte zur Erfüllung der Beitrittsregeln unternommen haben – und das nicht erst seit Beginn der vollständigen Invasion, sondern binnen der letzten neun Jahre. Seit der Revolution der Würde (dem Aufstand von 2014, der zum Sturz der Regierung von Wiktor Janukowitsch führte, Anm.) ist das der Weg, den wir beschreiten, und es gibt kein Zurück mehr.

STANDARD: Als Afro-Ukrainer haben Sie in Ihrem Land Diskriminierung wegen Ihrer Hautfarbe erlebt, wogegen es mittlerweile Gesetze gibt. Aber was ist mit den Rechten der LGBTIQ-Community, deren Menschen zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden an der Front kämpfen und die Kriegsanstrengungen ebenfalls auf vielfältige Weise unterstützen?

Belenjuk: Leider muss ich zustimmen, dass wir in mancher Hinsicht immer noch ein sehr konservatives Land sind. Die Diskriminierung dieser Community ist zuerst ein Erbe der sowjetischen und postsowjetischen Mentalität, die immer noch zu viele Menschen haben, besonders ältere Menschen. Zudem haben viele Ukrainer jahrzehntelang russisches Fernsehen und russische Inhalte auf Youtube konsumiert – und Sie kennen die Position der russischen Regierung zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen.

Es wird dauern, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sich unsere Gesellschaft diesbezüglich verändert hat und weiter ändern wird. Heutzutage reden wir viel offener über diese Dinge, genauso wie wir jetzt offen über Themen wie Rassismus sprechen. Anders als vor 20 Jahren können unsere Leute heute ohne große Probleme in zivilisierte Länder reisen. Und dort erkennen sie, dass Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder einer anderen sexuellen Orientierung ebenfalls völlig normal sind. (Klaus Stimeder aus Odessa, 4.8.2023)