Schweiz Neutralitätsdebatte
Die Schweiz feiert am Dienstag ihren Nationalfeiertag.
IMAGO/Maximilian Koch

Bern – In der Schweiz gewinnt die Neutralitätsdebatte an Fahrt. Ausgerechnet zum Schweizer Nationalfeiertag am Dienstag hat sich die Vorsitzende der liberalen Operation Libero, Sanija Ameti, für ein Ende der Neutralität ausgesprochen. "Die Schweiz muss handeln, wenn sie bedroht ist. Sie muss sich entscheiden können, auf welcher Seite sie steht, jener der internationalen Ordnung oder der eines kleptokratischen Imperiums", schreibt sie in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Blick".

"Solange wir uns nicht von diesem Mythos lösen, drehen sich die Diskussionen darum, wie wir die Neutralität biegen müssen, damit sie in der internationalen Ordnung des 21. Jahrhunderts funktionieren kann, im Kreis. Sie wird aber nicht funktionieren können", betont die Leiterin der zivilgesellschaftlichen Organisation, die in der Vergangenheit mehrere erfolgreiche liberale und proeuropäische Volksabstimmungskampagnen organisiert hat. Aktuell mobilisiert sie gegen die Neutralitätsinitiative der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die für kommendes Jahr erwartet wird. Die größte Parlamentspartei will das Land per Verfassungsänderung auf eine strikte Auslegung der Neutralität festlegen.

"Viele wagen es nicht auszusprechen, weshalb wir uns an der Neutralität so festklammern: Sie hat sich historisch als Geschäftsmodell etabliert", betont Ameti. Dieses Geschäftsmodell funktioniere aber nicht mehr. "Die Neutralität war nie für den Fall eines Angriffs auf die Schweiz gedacht. Diese Neutralität hat es nie gegeben. Sie ist ein Mythos."

Kritik an der Regierung

SVP-Eminenz Christoph Blocher sieht die Schweizer Neutralität hingegen bereits preisgegeben. "Durch Übernahme der Wirtschaftssanktionen – gegen Russland – wurde unser Land zur Kriegspartei. Und erst noch gegen eine Atommacht!", kritisiert er in einem Gastbeitrag für "Blick". Die Neutralität sei nur glaubwürdig, wenn sie immer gelte und nicht bloß "von Fall zu Fall". "Das Schweizer Volk hängt an der Neutralität – nicht zuletzt damit die Schweiz nicht in Konflikte und Kriege hineingezerrt wird. Zur Rückkehr der bestehenden, immerwährenden, bewaffneten und umfassenden Neutralität läuft jetzt die Unterschriftensammlung für die Neutralitäts-Initiative. Diese schützt uns vor Kriegen und erlaubt uns weltweit neutrale Hilfeleistungen. Dies ist hochaktuell."

Kritisch zur Politik der aktuellen Regierung äußert sich in der auflagenstärksten Schweizer Zeitung auch die frühere Außenministerin Micheline Calmy-Rey. Es sei "kein Geheimnis", dass die aktuelle Verteidigungsministerin Viola Amherd eine weitere Nato-Annäherung als "erklärtes Ziel" habe, so die Westschweizer Sozialdemokratin unter Verweis auf die Beteiligung an Sky Shield. Die bisherige Kooperation mit der Nato habe durch den Ukrainekrieg "eine andere Bedeutung gewonnen". "Ein Schritt zu weit in diese Richtung würde unser Schicksal an das der Nato binden und hätte automatisch den Verlust unserer Neutralität zur Folge. Dies ist eine echte Wahl, vor der die Schweiz aus sicherheitspolitischer Sicht steht. Schade, dass keine echte öffentliche Debatte über diese Frage stattfindet", beklagt die Politikerin, die sich als Außenministerin zwischen 2003 und 2011 für eine aktivere Neutralitätspolitik starkgemacht hatte.

Der Berner Historiker Sacha Zala weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die Neutralität für die sprachlich und kulturell stark zergliederte Schweiz eine "grundlegende ideologische Klammer für den Zusammenhalt" sei. "Und weil es in der Schweiz kaum je Konsens über die Ausrichtung der Außenpolitik gab, hat man diese mit der Neutralität schlichtweg neutralisiert." Historisch seien die meisten Staaten in den meisten Konflikten neutral gewesen. Wenn sie aber bedroht wurden, hätten sie sich einer Allianz angeschlossen – etwa Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg oder aktuell Finnland und Schweden. (APA, 31.7.2023)