In der EU nimmt man erfreut zur Kenntnis, dass Italiens Regierung unter Giorgia Meloni trotz ihrer stramm rechten, nominell europafeindlichen oder zumindest europakritischen Ausrichtung konstruktive Politik macht und auf EU-Kurs bleibt. Zu viel steht auf dem Spiel für die politische Führung in Rom, man will nicht die knapp 200 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds in den Sand setzen. Auch bei der Migrationspolitik lässt Meloni plötzlich mit sich reden; erkennt, dass ein gewisses Maß an Zuwanderung sogar nötig ist, damit Italien als Gesellschaft Wohlstand bewahren und überleben kann. Und auch die Tatsache, dass sich Rom in Sachen Ukrainekrieg zu 100 Prozent zur Linie der Nato bekennt – was Meloni erst vor wenigen Tagen bei einem Besuch bei US-Präsident Joe Biden in Washington bekräftigte –, kommt bei den Alliierten gut an.

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Infrastrukturminister Matteo Salvini ziehen ihr Vorhaben trotz Protesten durch: Die Mindestsicherung wird massiv gekürzt.
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Dennoch hat Meloni mit groben Problemen zu kämpfen – allerdings zu Hause, in Italien selbst. Budgetprobleme haben dazu geführt, dass seit dem 1. August rund 170.000 Familien in dem Land mit rund 59 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern weniger oder keine Sozialhilfe mehr erhalten. Der Bezug des "reddito di cittadinanza" – einer Art Bürgergeld bzw. Mindestsicherung – ist per Monatsbeginn an wesentlich strengere Voraussetzungen gebunden. Das Geld erhalten nunmehr künftig nur noch Haushalte, in denen es behinderte oder minderjährige Personen oder Senioren über 65 Jahre gibt.

Beschlossen hatte diesen Schritt die im Herbst 2022 eingesetzte rechte Regierung der Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni, der Lega unter Führung von Matteo Salvini und der Forza Italia, wo nach dem Tod von Silvio Berlusconi im Juni nun Antonio Tajani am Ruder ist. Die Maßnahme bekommt im wohlhabenden Norden Italiens eher Zustimmung: Dort macht man oft den "Mezzogiorno", den Süden des Landes, für die finanziellen Nöte Italiens verantwortlich. Tatsächlich ist der Süden oft sozial und wirtschaftlich benachteiligt, was sich auch an einer wesentlich höheren Arbeitslosenquote – vor allem bei jungen Menschen – und einer bedeutend geringeren Kaufkraft ablesen lässt. Doch dass die Menschen im Süden bloß faul in der "sozialen Hängematte" schlafen würden, dagegen protestiert man in Neapel, Bari und Palermo.

1,9 Millionen Haushalte in Armut

Das Sozialforschungsinstitut Censis erhob für das Jahr 2021 besorgniserregende Zahlen für das Land, das immerhin Mitglied der G7, der stärksten Wirtschaftsnationen weltweit, ist: Demnach leben mehr als 1,9 Millionen Haushalte in Armut – das sind 7,5 Prozent aller Haushalte. Auf Individuen umgerechnet, ist das fast ein Zehntel aller Menschen aller Altersgruppen, vom Kind bis zu den Ältesten. Fast die Hälfte dieser Armen lebt im Süden des Festlandes und auf den großen Inseln Sizilien und Sardinien. Und natürlich hat die massiv gestiegene Inflation der vergangenen Jahre die Lage zusätzlich verschärft.

Bisher war der "reddito", der von der Mitte-links-Regierung unter Giuseppe Conte 2019 eingeführt wurde, eine zusätzliche Sicherheit für einkommensschwache Personen und Familien: Alleinstehende konnten bei Zutreffen der Kriterien mit einem Einkommenszuschuss von bis zu 780 Euro im Monat rechnen; eine vierköpfige Familie mit bis zu 1.330 Euro. Und hier lag der hauptsächliche Kritikpunkt der rechten Parteien, die 2022 schließlich an die Macht kamen: Wer vom Staat so viel Unterstützung bekomme, habe gar kein Interesse, sich einen Job zu suchen – man komme auch so halbwegs gut über die Runden. Die Mindestsicherung sei mit ein Grund dafür gewesen, dass sich nach der Corona-Pandemie in der Gastronomie und im Tourismus ein akuter Personalmangel einstellte. Dass die Gehälter in diesen Branchen in Italien allerdings katastrophal schlecht und die Jobs daher nicht attraktiv sind, wurde und wird von Kritikern des "reddito" gerne verschwiegen.

Matteo Salvini, der hemdsärmelige Volkstribun aus Mailand, meinte kürzlich provokant, wer nicht arbeiten wolle, brauche das nicht zu tun; der oder die sollte dann aber auch nicht auf Kosten anderer leben. "Steh halt auf und geh morgens um sechs Uhr arbeiten – so wie es die anderen Menschen auch tun!"

Monatelange Proteste gegen die Abschaffung des "reddito" (Archivbild Herbst 2022) liefen ins Leere: Seit 1. August gelten verschärfte Bedingungen für Bezieher und Bezieherinnen.
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Was von Salvinis Anhängern mit lautstarkem Applaus quittiert wird, sorgt im Süden für Empörung. Dort reichte die Mindestsicherung für Arbeitslose schon bisher kaum aus, die Lebenshaltungskosten der Familie zu begleichen. Lokalpolitiker im Mezzogiorno, der traditionell eher links als rechts wählt, protestieren daher gegen die Sozialpolitik der neuen rechten Regierung. Und die Opposition – die momentan fast ausschließlich im linken Lager beheimatet ist – warnt gar vor der Explosion einer "Sozialbombe" in Italien.

Benachrichtigung via SMS

Diese setzt aber noch lange nicht den Schlussstrich: Das Kabinett Meloni will die Zahl der Sozialhilfeempfänger generell um rund 40 Prozent reduzieren. Die Ausgaben für die Mindestsicherung sollen von zuletzt mehr als acht Milliarden Euro auf rund fünf Milliarden Euro eingedampft werden – bei gleichbleibenden oder sich sogar verschlechternden Bedingungen am Arbeitsmarkt.

Die Proteste scheinen die Regierung indes wenig zu kümmern, vielmehr verschärft man auch die Kriterien zur Vergabe der Sozialhilfe: Wer einen Job verweigert, für den das Gehalt mindestens 60 Prozent einer branchenüblichen Vollzeitstelle umfasst und dem tarifvertraglichen Mindestlohn entspricht, verwirkt über kurz oder lang seine Ansprüche beim Staat.

Der Ärger und die Wut werden durch die Art und Weise verstärkt, wie die neuesten Kürzungen bei den Sozialleistungen kommuniziert wurden: per SMS an die Betroffenen – und zwar mitten in der Ferienzeit, wenn viele Behörden der Regierung wochenlang geschlossen haben. (Gianluca Wallisch, 1.8.2023)