Dicht hängen in diesen Sommertagen die Nebel des Krieges über dem Schlachtfeld in der Ukraine. So groß die Erwartungen im Westen an die mit US-amerikanischen und europäischen Waffensystemen ausgestattete ukrainische Armee waren, so verschwommen ist heute, knapp zwei Monate nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive, die Sicht auf die Lage am Boden.

Die aktuelle Lage in der Ukraine.
Grafik: STANDARD

Auf den ersten Blick erscheinen die Zahlen ernüchternd: Knapp 15 Quadratkilometer besetzten Landes, heißt es vom Kiewer Verteidigungsministerium, habe man in den vergangenen Tagen den russischen Invasoren entrissen, 240 Quadratkilometer sollen es in den 58 Tagen seit Beginn der Offensive insgesamt sein. Freilich: Noch immer kontrolliert Russland inklusive der schon 2014 besetzten Halbinsel Krim etwa 100.000 Quadratkilometer ukrainischen Landes, was mehr als der Gesamtfläche Österreichs entspricht. Ein echter Durchbruch, der ukrainische Verbände hinter die feindlichen Wälle gebracht hätte, ist bisher ausgeblieben. Mehr als 100 Kilometer trennen die ukrainische Armee vom Asowschen Meer – dem strategischen Ziel der Offensive.

Die ukrainische Armee, hier ein Soldat nahe Donezk, setzt nun auf eine Nadelstichtaktik, um gegen die russischen Linien anzukommen.
REUTERS/VIACHESLAV RATYNSKYI

Und die Zeit drängt durchaus. Wenn im Oktober in der Ukraine wieder die Schlammperiode beginnt, werden großräumige Bodenoperationen, etwa mit schweren Panzern, noch schwieriger. Die Ukraine kämpft aber nicht nur gegen die russischen Invasoren, sondern muss sich auch der Ungeduld hinsichtlich ihrer großangekündigten Befreiungsoffensive erwehren, die sich im Westen manchenorts breitmacht. Zu langsam, heißt es dort, schreite die ukrainische Gegenoffensive voran, zu wenig durchschlagend kämen die teuren westlichen Waffen zum Einsatz.

"Krieg ist kein Computerspiel", erklärte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksyj Resnikow unlängst jenen im Westen, denen die von Kiew angekündigte Befreiung des riesigen Landes schon jetzt viel zu lange dauert. Wohl auch deshalb feierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Ende vergangener Woche die Befreiung des 900-Seelen-Dorfs Staromajorske im Süden der Oblast Donezk auch mit Blick gen Westen wie einen entscheidenden Sieg.

Von dem befreiten Dorf Staromajorske ist wenig mehr als ein Trümmerfeld übrig geblieben.
via REUTERS/35TH SEPARATE MARINE

Doch wie stellt sich die Lage nun tatsächlich dar? Marschiert die Ukraine langsam, aber stetig der Befreiung des Landes entgegen, wie es Kiews PR suggeriert? Oder bleibt sie in den enggeknüpften russischen Minengürteln stecken, wie es aus Moskau stets heißt? DER STANDARD hat Fachleute um eine erste Zwischenbilanz gebeten.

Die Ukraine hat noch Reserven

Fest steht, dass die Ukraine noch nicht alle ihre neu aufgestellten Großverbände in den Kampf geschickt hat. Zwölf Brigaden mit jeweils etwa 5.000 Soldaten soll Kiew für die Gegenoffensive gebildet haben, neun davon wurden von westlichen Staaten ausgerüstet und zum Großteil auch ausgebildet. Zwei Drittel der neuen Brigaden, schätzt der Militäranalyst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, dürften bisher schon eingesetzt worden sein. In der Hinterhand hat Kiew aber etwa noch die 82. Luftsturmbrigade, die mit 90 US-Stryker-Schützenpanzern, 40 deutschen Marder-Panzern sowie 14 britischen Challenger-Kampfpanzern bestückt als besonders kampfstark gilt. "Bisher sind Angriffe mit Großverbänden aber weitgehend gescheitert, weil die Ukraine den Gegner mangels Luftwaffe nicht niederhalten kann", sagt Reisner.

Nadelstiche statt Großangriff

Auch darum setzen die Kiewer Kriegsstrategen seit einigen Wochen auf eine andere, zuvor schon erfolgreich erprobte Taktik. Anstelle großer Panzerverbände rücken kleinere Stoßtrupps aus, die einerseits den Gegner binden, vor allem aber Schwachstellen in den russischen Linien ausloten sollen. Nach herben Verlusten gleich in den ersten Juniwochen – die "New York Times" berichtete, dass allein die kampfstarke 47. mechanisierte Brigade bei ihrem Vorstoß in der Region Saporischschja mehr als 30 US-Bradley-Schützenpanzer zumindest vorübergehend aufgeben musste – geht man nun weit vorsichtiger mit den knappen Ressourcen und dem Leben der Soldaten um. Das geht zwangsläufig auf Kosten der Geschwindigkeit. Rund um das umkämpfte Bachmut habe sich diese Taktik aber bereits ausgezahlt, sagt Reisner. "Dort hatten die Russen aber auch nicht so viel Zeit, sich auf die Offensive vorzubereiten, als es weiter im Süden der Fall war."

Weite Teile der Ukraine sind inzwischen vermint.
APA/AFP/SERGEY BOBOK

Massive Minenfelder

Anders als bei den erfolgreichen Rückeroberungen im vergangenen Herbst, in Charkiw etwa, gereicht die Topografie im weitgehend flachen Süden der Ukraine den Besatzern bisher zum Vorteil. Dass die aktuelle Gegenoffensive insgesamt bisher aber langsamer vorangeht, als vielerorts erhofft, hat schließlich zu einem großen Teil mit den Minenfeldern zu tun, die Russland an den Grenzen seiner besetzten Gebiete gelegt hat. Auch hier spielte der Faktor Zeit dem Kreml in die Karten: Während man sich in den USA und Europa darüber stritt, welche und wie viele Waffen man Kiew für dessen Befreiungsschlag liefern will, gruben sich die russischen Besatzer vor allem im Süden und Osten der Ukraine tief ein – und machen sich nun ihre Luftüberlegenheit dort punktgenau zunutze.

Für Kiews Truppen ein entscheidender Nachteil: Verbände, die sich den Minenfeldern nähern, werden von russischen Drohnen ausgekundschaftet und binnen weniger Minuten von Artillerie unter Feuer genommen. Allzu oft wurde so das ohnehin rare ukrainische Minenräumgerät, etwa jenes vom Typ Leopard, durch russischen Beschuss zerstört, ohne dass es seine Aufgabe erfüllen konnte. Von Kampfhubschraubern abgefeuerte Raketen sowie Gleitbomben erstickten bisher meist ebenfalls jedes Vorrücken der Befreier.

Mangels ausreichender Luftwaffe hat die Ukraine dieser Übermacht viel zu oft wenig entgegenzusetzen. "Dieses Manko kann nur schwer kompensiert werden, etwa durch sehr gute Aufklärung und weitreichende Artillerie. Komplett ausgleichen können die Ukrainer die so gut wie fehlende Luftwaffe aber nicht", sagt der Analyst Walter Feichtinger vom Center für Strategische Analysen in Wien.

Messbare Erfolge

Ukrainische Soldaten geben ihr Bestes, um beschädigte Panzer zu reparieren, etwa diesen Leopard.
AP

Feichtinger hält gleichwohl nichts davon, die bisherigen Erfolge der Ukraine kleinzureden: "Die relativ kleinflächigen Geländegewinne erstrecken sich entlang einer Strecke von etwa 200 Kilometern, ein großer Stoß würde dann aber höchstens auf einer Länge von 30 Kilometern erfolgen." Auch in den Angriffen auf Brücken oder Depots auf der Krim oder im russischen Hinterland ortet der Analyst durchaus messbare ukrainische Erfolge. Mithilfe der etwa von Großbritannien gelieferten Marschflugkörper nahm die ukrainische Armee zuletzt außerdem verstärkt russische Artillerie ins Visier.

Ob sich daraus dann doch bald noch größere Geländegewinne für die Ukraine ergeben? "Die Kampfmoral ist nach wie vor sehr hoch", sagt Feichtinger. Und: "Wenn es Kiew gelingt, in die Tiefe zu stoßen, kann es dann auch schnell gehen." (Florian Niederdorfer, 1.8.2023)