Illustration der Nachrichtenagentur AP: zwei russische Soldaten führen einen Ukrainer ab.
Diese Illustration der Nachrichtenagentur AP beschreibt einen wahren Fall in der Ukraine nach den Schilderungen des Opfers. Von Folter im engeren Sinn sind großteils zivile Männer betroffen.
AP/AP Illustration/Peter Hamlin

Uno-Sonderberichterstatterin Alice Jill Edwards hat vor ihrer Aufgabe in der Ukraine jahrelang mit Opfern des Massakers von Srebrenica gearbeitet. Damals erwartete sie, dasselbe Ausmaß an Missachtung von Menschenleben und Menschenwürde in Europa nicht noch einmal wiederzusehen. Der Krieg in der Ukraine belehrte sie eines Besseren.

STANDARD: Butscha hat die Menschen überall auf der Welt schockiert, ist aber nur einer von vielen Orten, an denen Kriegsverbrechen und Folter stattgefunden haben. Hat sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt?

Edwards: Die Anschuldigungen aus Butscha sind entsetzlich. Ich akzeptiere die oft gebrauchte Ausrede, dass so etwas im "Nebel des Krieges" passiert, nicht. Was ich im Krieg in der Ukraine sehe, ist, dass dieses Ausmaß an Folter und Brutalität ein Muster darstellt und systematisch ist. Diese Fälle von Folter sind mehr als nur ein gelegentlicher Vorfall, bei dem ein Soldat im Moment überhitzt ist und aus Hass Gewalt gegen Zivilisten oder Kriegsgefangene ausübt. Es war unheimlich, so viele Anschuldigungen zu lesen, die sehr ähnliche Wege und Methoden und Zwecke beschrieben. Ich habe zwei Jahre lang nach dem Bosnienkonflikt mit den Opfern des Massakers von Srebrenica und anderen Opfern von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt und Folter gearbeitet. Naiverweise war ich der Meinung, dass wir dasselbe Ausmaß an Missachtung von Menschenleben und Menschenwürde wie im Bosnienkonflikt in Europa nicht wiedersehen würden.

STANDARD: Welche Fälle von Folter sind Ihnen in der Ukraine bekannt?

Edwards: Ohne zu sehr ins Detail zu gehen – es handelt sich hauptsächlich um Fälle von zivilen Männern, die aus ihren Wohnungen oder von ihren Arbeitsplätzen geholt wurden. Sie wurden dann an verschiedenen Orten – in Haftanstalten oder Kellern, Garagen – für unterschiedliche Zeiträume festgehalten, von einigen Tagen bis zu zwei, drei Monaten oder sogar länger. Sie berichteten, dass sie bedroht, beschimpft, durchsucht und geschlagen wurden. Während der Verhöre wurden Kapuzen, Augenbinden und Elektroschocks eingesetzt. Es gab schwere Schläge mit Eisen- und Plastikschlägern, Knüppeln und Hämmern sowie zahlreiche Drohungen, einschließlich Todesdrohungen und Androhung sexueller Gewalt. Einige Personen wurden Scheinhinrichtungen unterzogen, indem man ihnen beispielsweise mit einer Pistole über den Kopf schoss. Sie hatten weder Zugang zu Anwälten, Familienangehörigen oder dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz noch zu medizinischer Versorgung für die Verletzungen.

STANDARD: Haben Sie bisher auch Informationen über Fälle von Folter durch die ukrainischen Streitkräfte?

Edwards: Nein.

STANDARD: Sie haben den russischen Behörden geschrieben, dass Konsistenz und Methoden der mutmaßlichen Folterungen "ein Maß an Koordination, Planung und Organisation" nahelegen. Erwarten Sie eine Reaktion?

Edwards: Ich habe noch keine Antwort erhalten. Die Frist dafür läuft nach 60 Tagen, also Mitte August, ab. Ich habe bereits um Treffen mit den russischen Behörden gebeten, die bisher nicht stattgefunden haben. Ich würde gerne ein Gespräch mit ihnen führen. Ich habe darum gebeten, dass sie ihre eigenen Ermittlungen zu einigen dieser Anschuldigungen aufnehmen. Es gibt einige Namen von mutmaßlichen Tätern, die in den Akten stehen. Ich hoffe wirklich, dass sie sich die Zeit nehmen werden, um zu antworten und die Schritte darzulegen, die sie unternehmen, um solche Vorfälle zu verhindern. Ich würde gerne wissen, welche Anweisungen die russischen Offiziere und Soldaten bekommen.

STANDARD: Welche Rolle spielt dieser Krieg für die Vereinten Nationen?

Edwards: Dieser Krieg ist nicht nur eine existenzielle Krise für die Menschen in der Ukraine, die versuchen, ihr Territorium zu verteidigen, sondern auch eine für die Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen sind nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, um internationalen Frieden und Sicherheit zu schaffen. Aber je länger der Krieg andauert, desto mehr Gräueltaten werden begangen, und das führt dazu, dass es nach dem Konflikt sehr viel schwieriger wird, Frieden und Versöhnung zu schaffen und das Land und die Menschen wieder aufzubauen, sowohl physisch als auch mental. Ich glaube, dass dieser Krieg auch einen Wendepunkt für das darstellt, was wir in der heutigen Welt unter Menschenrechten verstehen.

STANDARD: Menschen haben das Recht, nicht gefoltert zu werden. Aber wie kann man diesen Schutz in einem aktiven Krieg sicherstellen?

Edwards: Dafür müssen die Parteien sorgen. Die russischen Soldaten müssen von höchster Ebene die Anweisung erhalten, dass Folter nicht erlaubt ist. Sie müssen verhaftet und bestraft werden, wenn sie foltern, das gilt auch für die Vorgesetzten. Es gibt eine Verantwortung in Bezug auf ordnungsgemäße Ermittlungs- und Strafverfolgungsverfahren, aber auch in Bezug auf die Ausbildung von Soldaten. Aber diese Logik bricht zusammen, wenn die höchsten Ebenen tatsächlich anweisen, dass Folter geduldet oder sogar angewendet werden soll.

STANDARD: Wie könnte Gerechtigkeit für die Menschen aussehen, die in diesem Krieg Opfer von Folter geworden sind?

Edwards: Zunächst müssen die Opfer und Überlebenden ein Mitspracherecht haben, wenn es um die Aufarbeitung geht. Für einige wird Gerechtigkeit bedeuten, dass es eine Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung der Täter gibt. Andere werden ihre Erlebnisse erzählen wollen. Manche wiederum werden eine finanzielle Entschädigung fordern, weil sie aufgrund der erlittenen Verletzungen nicht mehr in der Lage sind, zu arbeiten oder für ihre Familie zu sorgen.

STANDARD: Welche Hoffnungen haben Sie in Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung der Täter?

Edwards: Folter ist ein Schaden, der schnell begangen werden kann. Aber es ist ein sehr langer Weg zur Wiederherstellung der internationalen oder staatlichen Beziehungen. In Bosnien ist 30 Jahre nach dem Krieg ein Drittel der Täter noch immer für die örtlichen Strafgerichte nicht greifbar, entweder weil sie in unkooperativen Ländern untergebracht wurden oder untergetaucht sind oder ihre Identität geändert haben.

STANDARD: Haben Sie nach all der Zeit, in der Sie sich mit diesem Thema beschäftigt haben, eine Antwort auf die Frage gefunden, warum Menschen foltern, vergewaltigen, töten?

Edwards: Ich bin immer noch jeden Tag betroffen von den E-Mails und den Bildern, die ich erhalte. Und ich tue mein Bestes, um diese Geschichten und Anschuldigungen zu veröffentlichen, damit so etwas in Zukunft nicht mehr passiert und die Täter vor Gericht kommen. Aber dieser unterschwellige Hass, der anscheinend in vielen Teilen der Welt so gerne beschworen wird, ist wirklich etwas, an dem wir als Menschen arbeiten müssen. Es ist eine Sache, auf jemanden eifersüchtig zu sein, der sich in einer anderen wirtschaftlichen Position befindet als man selbst. Aber so weit zu gehen, dass man einem anderen Menschen schwere Schmerzen oder Leid zufügt, ist unbegreiflich.

STANDARD: Ist Folter überhaupt eine wirksame Waffe im Krieg?

Edwards: Als Taktik auf dem Schlachtfeld oder als Verhörtechnik ist Folter unwirksam. Aber wenn man den Hass und einen Konflikt mit dem Nachbarn schüren will, der hundert Jahre andauert, führt das Foltern von Menschen zum Ziel. Folter bewirkt nichts außer der Zerstörung von Einzelpersonen, Gemeinschaften und Gesellschaften als Ganzen. Es macht uns alle zu Opfern dieses Übels. (Daniela Prugger aus Kiew, 7.8.2023)

Die australische Juristin Alice Jill Edwards wurde im August 2022 zur Sonderberichterstatterin über Folter und andere inhumane Behandlungen vom UN-Menschenrechtsrat ernannt.
Cordula Treml