Eine junge Chinesin liegt auf einem Sitzsack.
"Flach liegen" und "Verrotten lassen" heißen zwei Trends unter jungen Menschen in sozialen Medien.
EPA/WU HAO

Shiqi Jian sieht sich zum ersten Mal in ihrem Leben gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen. "Ich bin sehr pessimistisch, was meine Zukunft in China angeht. Ich glaube nicht, dass ich hier glücklich leben kann", sagt die 25-Jährige, die ihren echten Namen nicht nennen möchte. Nach ihrem Abschluss in China wird sie einen zweiten Masterstudiengang in Kanada beginnen. "Ich studiere lieber weiter, als dass ich in einem schlecht bezahlten Job in China ausgebeutet werde", sagt sie. Trotzdem steht sie unter Druck, bald einen Job zu finden – auch weil ihre Eltern von ihr erwarten, dass sie sie im Alter unterstützt.

Shiqi Jians Erfahrung ist kein Einzelfall. Chinas Jugend blickt hoffnungslos in ihre Zukunft. Im Juni stieg die offizielle Jugendarbeitslosigkeit der 16- bis 24-Jährigen in China auf einen Rekordwert von 21,3 Prozent – der höchste Wert seit der Öffnung des Landes 1978. Die Pandemie und zahlreiche harte Lockdowns haben das chinesische Wirtschaftswachstum gedrosselt.

Firmen stellen weniger ein und erhöhen stattdessen die Arbeitszeit ihrer Belegschaft. Ein Pool an mehr als 11,5 Millionen Hochschulabsolventen und Hochschulabsolventinnen, die im Sommer ihren Abschluss machen, hat Schwierigkeiten, Jobs zu finden. China sieht sich einer doppelten wirtschaftlichen Herausforderung gegenüber: eine alternde Bevölkerung und junge Menschen, die keine Arbeit finden, später aber für sie sorgen sollen. Gleichzeitig sinkt die Geburtenrate, junge Menschen werden von der Führung unter Druck gesetzt, Kinder zu bekommen – ohne Jobsicherheit.

Protest in sozialen Medien

Chinas Jugend äußert ihren Missmut in sozialen Medien. Manche finden keine Arbeit, andere sind unzufrieden, wenn sie eine Stelle ergattern, die dann aber schlecht bezahlt ist und kaum Freizeit lässt. China ist bekannt für eine notorisch schlechte Work-Life-Balance, im Land auch "996" genannt: von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends arbeiten, sechs Tage die Woche. Einige geben auf und verweigern die Arbeit ganz – in einer Art stillem Protest.

"Ich gehöre zu der Generation, die ‚flach liegt‘ und den Kampf um einen guten Job aufgegeben hat", sagt Shiqi Jian. "Indem wir ein Leben ohne Haus, ohne Heirat, ohne Kind und ohne Arbeit führen, können wir uns teilweise der Ausbeutung durch die Regierung entziehen", sagt sie.

"Flach liegen" und "Verrotten lassen" heißen die beiden Hashtags, unter denen junge Menschen in sozialen Medien am Tag ihres Uniabschlusses Fotos posten, wie sie reglos, mal auf einer Bank, mal neben einem Grabstein liegen oder ihr Zertifikat in den Müll werfen. Wer "flach liegt", meidet das Ethos intensiven Wettbewerbs und harter Arbeit, das weder Zufriedenheit noch finanziellen Erfolg verspricht. Etwas "verrotten lassen" soll bedeuten, dass man oft gezwungen ist, eine sich bereits verschlechternde Situation anzunehmen und aktiv zu verschärfen.

Vollzeitkinder

Durch ihren zweiten Masterstudiengang schiebt Shiqi Jian es auf, einen unattraktiven Job anzunehmen oder sich der Realität zu stellen und vielleicht gar keinen zu finden. In noch extremeren Beispielen werden junge Chinesen zu sogenannten Vollzeitkindern. Sie waschen, putzen, kochen für ihre Eltern, werden teilweise sogar dafür von ihnen bezahlt. Ihre eigene Zukunft spielt keine Rolle mehr.

Die Kommunistische Partei (KP) spielt das Problem herunter und gibt die Verantwortung ab. Der chinesische Präsident Xi Jinping sagte, die neuen Absolventinnen und Absolventen müssten "Bitterkeit essen" – ein umgangssprachlicher Ausdruck für das stoische Ertragen von Entbehrungen.

Im März forderte der Kommunistische Jugendverband junge Chinesinnen und Chinesen auf, "ihre Anzüge auszuziehen, die Ärmel hochzukrempeln und auf den Acker zu gehen". Menschen mit Uniabschluss sollen aufs Land ziehen und dort körperliche Arbeit verrichten.

"Xi wurde als Jugendlicher in den späten Mao-Jahren aufs Land ‚verschickt‘ und blickt nostalgisch in die eigene Vergangenheit", sagt Professor Steve Tsang, Direktor vom SOAS China Institute in London. Dies sei jedoch für junge Menschen des 21. Jahrhunderts unattraktiv und löse das Problem nicht. "Solange Xi nicht von seinem ideologischen hohen Ross herunterkommt und sich der Realität stellt, wird seine Regierung das Problem der hohen Arbeitslosigkeit nicht lösen, sondern verstärken", so Tsang. Schon heute verschleierten die offiziellen Zahlen das Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit, denn es liege nicht in Xis Interesse, dass die echten Zahlen ans Licht kämen. (Christina zur Nedden, 9.8.2023)