Der Hype um das Material LK-99, bei dem Forschende aus Korea die Eigenschaften eines Supraleiters beobachtet haben wollen, bei Normaldruck und Raumtemperatur, flaut langsam ab, und während Forschungsgruppen in aller Welt nach und nach ihre Überprüfung der Ergebnisse präsentieren, ohne das Phänomen bestätigen zu können, beginnt die Onlinegemeinde in den sozialen Medien, den Abgesang auf den Traum des unter Normalbedingungen widerstandsfrei fließenden Stroms mit dem gleichen Genuss zu feiern wie zuvor den Traum selbst. Davon zeugen unzählige Memes und Witze.

Tatsächlich ist mehr als zwei Wochen nach der Veröffentlichung der ersten Arbeit auf einem Preprint-Server keinem Team eine glaubwürdige Wiederholung des Phänomens geglückt. Einzelne vorsichtig positive Ergebnisse von Theoriegruppen wie jener von Karsten Held von der Technischen Universität Wien zeugen zwar von interessanten Effekten, die mit Supraleitung kompatibel sind, sie sind aber nicht die gesuchte Bestätigung der Sensation.

Eine große, radförmige Spule auf einer Halterung vor einer Glaswand.
Eine Supraleiterspule für einen besonders leistungsfähigen Magnetresonanztomografen am CEA Saclay Nuclear Research Centre in Paris. Sie funktioniert nur in Verbindung mit einem extrem leistungsfähigen Kühlsystem.
REUTERS/REUTERS PHOTOGRAPHER

Wissenschaftsmedien kritisieren zum Teil den Hype in sozialen Medien. Das Journal "Science" zitiert Alex Kaplan, den man süffisant als "leitenden Angestellten eines kleinen Kaffeeunternehmens, der 2021 seinen Bachelor-Abschluss in Physik an der Princeton University gemacht hat", vorstellt. Sein Post, in dem er von der möglicherweise größten physikalischen Entdeckung seiner Lebenszeit sprach, hat auf der Twitter-Nachfolgeplattform X 30 Millionen Views. Seine Meinung wird der vieler skeptischer Fachleute gegenübergestellt.

Zwischenbilanz

Doch die Fülle an Versuchen internationaler Forschungsgruppen, das Phänomen zu reproduzieren, zeigt, dass sich die Fachwelt brennend für das Thema interessiert. Während in sozialen Medien die eine oder andere der ohne Peer-Review-Prozess publizierten Arbeiten kommentiert wird, hat die Wiener Gruppe um Karsten Held einen Artikel mit einer Einschätzung der aktuellen Situation veröffentlicht, in dem er die wichtigsten bis jetzt bekannten Bestrebungen zusammengefasst hat.

Die bisherigen experimentellen Ergebnisse deuten sie als sehr widersprüchlich. Manche Versuche, das Material herzustellen, hätten tatsächlich einen supraleitertypischen Abfall des Widerstands gezeigt. Im Fall der chinesischen Gruppe um Qiang Hou zeigte sich der Effekt allerdings bei 100 Grad Kelvin, also rund minus 173 Grad Celsius. Andere internationale Reproduktionsversuche führten aber zu Materialien mit völlig anderen Eigenschaften, teilweise etwa zu einem Halbleiter, bei dem der elektrische Widerstand mit sinkender Temperatur sogar steigt.

Eine gebäudegroße ringförmige Struktur, umgeben von futuristischen Metallteilen und Treppen.
Ein Kernfusionsreaktor in Daejeon in Südkorea. Hier kommen Supraleiter bereits zu Einsatz, auch sie müssen aufwendig gekühlt werden.
EPA

Die in den letzten Tagen veröffentlichten theoretischen Arbeiten, in denen das Material mithilfe von Computersimulationen modelliert wurde, zeigen allerdings durchwegs übereinstimmende Ergebnisse. Wie bei Held und seinem Kollegen Si ergaben auch vier andere Untersuchungen, dass durch das Ersetzen von Blei durch Kupfer in einem Blei-Apatit-Kristall eine Veränderung in der Leitfähigkeit zu erwarten ist, die auf verschiedene Weise mit Supraleitung in Zusammenhang stehen könnte.

Was die originale Arbeit angeht, unterstreichen Held und sein Autorenteam eine Schwäche, die schon andere Beobachter bemängelten: "Der Rauschpegel des spezifischen Widerstands scheint zu groß zu sein, um daraus zu schließen, dass LK-99 keinen Widerstand hat", schreiben Erstautor Si, Held und ihr Autorenteam. Das Schweben lasse sich auch anders erklären. Doch sie geben zu, dass die Daten, so, wie sie präsentiert sind, sehr wohl auf Supraleitung hindeuten.

Höherer Anspruch

Würde die kritische Temperatur, unter der Supraleitung aufzutreten scheint, nur knapp über dem absoluten Nullpunkt liegen, "wäre die wissenschaftliche Gemeinschaft nun höchstwahrscheinlich ziemlich sicher, dass zumindest Teile der LK-99-Probe supraleitend sind", schreibt das Team. "Aber Raumtemperatur-Supraleitung ist eine außergewöhnliche Behauptung, und außergewöhnliche Behauptungen erfordern zu Recht einen außergewöhnlichen soliden Nachweis." Weder ein solcher Beweis noch ein Beweis für das Gegenteil sei bisher zu sehen.

Auch der in der Supraleiterforschung aktive Physiker Wolfgang Lang von der Universität Wien hält die Situation noch nicht für geklärt. "Wir müssen natürlich immer voraussetzen, dass keine absichtlich gefälschten Infos verbreitet werden", betont er. Er macht auf eine Arbeit aufmerksam, die das Verhalten des Materials ohne Supraleitung erklären könnte. Der Effekt könnte auf eine Kupferverbindung zurückzuführen sein, die bei 385 Grad Kelvin, also etwas mehr als 100 Grad Celsius, einen starken Abfall des Widerstands zeigt. "Kupfer(II)-sulfid könnte während des Herstellungsprozesses entstanden sein und daher in inhomogenen Proben noch vorhanden sein", mutmaßt Lang.

Die unterschiedlichen Ergebnisse der Experimentalgruppen überraschen ihn nicht. Man wisse aus früheren Erfahrungen, dass die verwendeten Herstellungstechniken – Mahlen, Mischen, Hochtemperaturerhitzen, Abkühlen – extrem sensibel auf verschiedene Parameter wie Temperaturveränderungen oder Sauerstoffpartialdruck reagierten. "Entscheidend wäre jetzt, dass Lee und sein Team Proben herausrücken, von denen sie behaupten, den Herstellungsprozess über viele Jahre optimiert zu haben. Sonst sind die Reproduktionsversuche eher ein zufälliges Herumstochern", sagt Lang. An eine schnelle Klärung, wie das Magazin "Science" sie vor zwei Wochen versprach, glaubt Lang nicht: "Wissenschaftlich wird uns das Thema noch eine Weile begleiten." (Reinhard Kleindl, 10.8.2023)