Zerstörung in Charkiw nach einem Drohnenangriff vergangene Woche.
Zerstörung in Charkiw nach einem Drohnenangriff vergangene Woche.
AFP/SERGEY BOBOK

Es sei schwierig, zu erklären, was es bedeutet, im Krieg zu leben, sagt Valentina Bobrenko. Der Blick der Sozialarbeiterin schweift über die Häuserreihen, die am Fenster vorbeiziehen. Ein Wohnblock nach dem anderen, manchmal unversehrt, manchmal von einer Rakete oder Drohne in Schutt zerlegt. Die Spuren der Verwüstung sind im Charkiwer Stadtteil Saltiwka noch überall sichtbar. An den Straßenrändern wird auf Plakaten den Einsatzkräften gedankt, die seither ohne Pause im Dienst sind. Der Feuerwehr, der Armee, den Ärztinnen und Ärzten.

"Ich habe mehrmals das Angebot erhalten, im Ausland in einem ähnlichen Job zu arbeiten", sagt die 55-Jährige, blaues T-Shirt, graumelierte Stirnfransen. Sie macht sich wie jeden Tag auf den Weg zu einem Hausbesuch. In ihrer Heimatstadt betreut Bobrenko alte Menschen, kocht und putzt für sie, geht einkaufen, bringt Lebensmittel und Medikamente vorbei. "Die Wahrheit ist, dass ich hier viel mehr gebraucht werde", sagt Bobrenko, die für ein Projekt des Wohlfahrtsvereins Social Service of Assistance arbeitet.

Sozialarbeiterin Valentina Bobrenko (Mitte) und ihre Klientin Valentina Gritsai (links) sitzen mit einer dritten Person im Wohnzimmer.
Sozialarbeiterin Valentina Bobrenko (Mitte) und ihre Klientin Valentina Gritsai (links) versuchen den Krieg mit Pragmatismus zu überstehen.
Olha Ivashchenko

Was bei den Menschen seit dem Krieg bleibt, sind die Ängste, die Einsamkeit und die Armut, erklärt Bobrenko. Auch deshalb fühle sie sich oft hilflos. Extrem war das im Frühjahr 2022, als sie die meiste Zeit aus Schutz vor den Angriffen im Keller verbrachte. "Es gab plötzlich keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Ich konnte nicht zu meinen Klienten nach Hause fahren, sondern nur anrufen." Die Anzahl an pflegebedürftigen Menschen und jenen, die allein zurückgeblieben sind, weil die Verwandten ins Ausland geflüchtet sind, habe seit den Kämpfen stark zugenommen. Bei manchen, so Bobrenko, hat sich der Gesundheitszustand rapide verschlechtert. Wieder andere sterben allein in ihren Wohnungen. Sie selbst bemühe sich darum, fröhlich zu bleiben, trotz der nicht enden wollenden Herausforderungen.

Ein Leben allein

Valentina Gritsai öffnet die Eingangstür zu ihrer Zweizimmerwohnung im zweiten Stock und umarmt ihre Sozialarbeiterin. Auf der Kommode im Wohnzimmer steht ein Schwarz-Weiß-Foto, das vor Jahrzehnten aufgenommen wurde. Manchmal denke sie ein wenig wehmütig zurück an ihre Jugend, sagt die 83-Jährige. Nicht dass das Leben in der Sowjetunion einfacher gewesen wäre. Aber damals, vor vielen Jahren, sei sie immerhin noch in der Lage gewesen, selbst ihre Einkäufe zu erledigen, und musste sich keine Gedanken darüber machen, ob sie es alleine über die Treppen hinunterschaffen würde.

Dmytro Tschubenko sitzt auf den Resten russischer Geschoße.
Dmytro Tschubenko von der lokalen Staatsanwaltschaft weiß, wie wichtig es ist, schon jetzt Beweise zu sammeln.
Olha Ivashchenko

Gritsai lebt wie die allermeisten der rund 200 alten Menschen, die im Rahmen des Projekts betreut werden, allein. Der Ehemann und die Tochter sind verstorben – ein Thema, über das sie nicht sprechen will. "Es geht mir gut, im Vergleich zu vielen anderen", meint sie. Im Winter habe sie die meiste Zeit über Strom gehabt, auch das Wasser sei selten ausgefallen. Das Fenster und der Balkon, die bei einem Raketeneinschlag beschädigt wurden, seien mittlerweile repariert worden. "Dank Putin habe ich neue Fenster", lacht sie. "Dieser Bastard!"

Einen Bruchteil von dem, was die Menschen in den vergangenen Monaten erlitten haben, will Dmytro Tschubenko, der 31-jährige Sprecher der regionalen Staatsanwaltschaft von Charkiw, zeigen. In einem anderen Stadtteil weist er den Aufseher gerade an, das Tor zu einem Fabrikgelände zu öffnen, als das Heulen einer Sirene die Stille des Nachmittags zerreißt. Wieder einmal entsperrt Tschubenko sein Smartphone und holt sich Informationen über die Sicherheitslage. Der Start eines russischen Kampfjets hat den Alarm in mehreren Oblasten ausgelöst. In der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die sich etwa 30 Kilometer Luftlinie von der russischen Grenze entfernt befindet, komme das mehr oder weniger täglich vor.

Mindestens 2.000 Tote

Ungerührt geht er über die asphaltierte Einfahrt und betritt das Gelände, auf dem einige der Raketen und Drohnen, die in den vergangenen Monaten auf die Stadt abgefeuert wurden, zu Dokumentationszwecken gesammelt werden. "Wir lagern hier mehr als tausend Geschoße in einem Gesamtwert von über 100 Millionen Dollar", erklärt Tschubenko: "99 Prozent der Treffer waren zivile Objekte, die überhaupt nichts mit militärischer Infrastruktur zu tun haben."

Allein in der Region und der Stadt Charkiw wurden durch Raketenangriffe seit Kriegsbeginn mindestens 2.000 Menschen getötet und 3000 verwundet, Tausende von Gebäuden zerstört, davon 200 Bildungseinrichtungen, 200 Kindergärten, etwa 1.000 Hochhäuser und 1.000 Privathäuser. "Derzeit werden die Hauptangriffe auf Charkiw und die Umgebung von S-300-Raketen ausgeführt", so Tschubenko. Zwar habe sich die Lage aufgrund der Luftverteidigung im Vergleich zum Vorjahr gebessert. "Doch diese Raketen abzufangen ist technisch komplex."

Vor dem Krieg

Sie habe Russland eigentlich immer nur als Nachbarland gesehen, sagt die 83-jährige Pensionistin Gritsai in ihrem Wohnzimmer. Weder positiv noch besonders negativ habe sie über die Menschen dort gedacht. Immerhin: Man teile nicht nur die Sprache, sondern auch die Mentalität. "Vor dem Krieg zumindest war das so", fügt sie an.

Mittlerweile sei sie dafür, dass alles, was mit Russland zu tun hat, entfernt wird. Straßennamen und Denkmäler etwa, die vielerorts noch immer an russische Schriftsteller oder sowjetische Generäle erinnern. Wer möchte, könne sich "ja Fotos davon im Internet anschauen". In den Straßen von Charkiw müsse es mit dieser Nostalgie ein Ende haben. (Daniela Prugger aus Charkiw, Fotos von Olha Ivashchenko, 11.8.2023)