Eine Bäuerin im Montafon sitzt an einem Baumwollrad und spinnt.
Vorarlberg
An der Wiege der Vorarlberger Textilindustrie stand Heimarbeit, wie hier im Montafon, wo Bäuerinnen Baumwolle spannen.
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Die trockenen Zahlen haben es in sich. Rund 51 Prozent der Beschäftigten im Ländle, in Österreichs westlichstem Bundesland, haben 2021 in der Maschinen- und Metallindustrie gearbeitet, Anfang der 1980er-Jahre waren es 22 Prozent gewesen. Die Industrie trug zuletzt mit rund 40 Prozent den größten Brocken zur Wertschöpfung Vorarlbergs bei, hat die Nase sehr, sehr weit vor allen anderen Wirtschaftssektoren.

Jede Menge Weltmarktführer haben ihren Sitz im Ländle, ob man nun an den Beschlägeerzeuger Blum, den Hersteller von Kunststoffverpackungen Alpla, den Seilbahnbauer Doppelmayr oder den Leuchtenerzeuger Zumtobel (und etliche andere mehr) denkt. "Extrem rasch" habe sich Maschinen-, Metall- und Elektronikindustrie seit den 1980ern entwickelt, sagt der Geschäftsführer der Industriellenvereinigung Vorarlberg, Christian Zoll. Damals, in den Achtzigern, ist jener Industriezweig verblichen, der Vorarlberg über Jahrhunderte seinen Stempel aufgedrückt hatte: die Textilindustrie.

Der bunte Leuchtkörper 'Starbrick el Luster' vom dänischen Künstler Olafur Eliasson
Leuchte
Unternehmen wie der Leuchtenerzeuger Zumtobel erobern heute von Vorarlberg aus mit ihren Produkten die Weltmärkte.
APA/Barbara Gindl/picuredesk

Als die neuen Industriellen zu ihren Höhenflügen ansetzten, ging der Stern der Textiler unter. Die meisten der international bekannten Erzeuger wie Benger, Böhm, Fussenegger, Herrburger und Rhomberg, Mäser, F.M. Hämmerle, Huber, Kunert, Getzner oder Ganahl gaben sich ihrer Billigpreiskonkurrenz im asiatischen Raum geschlagen, sperrten ihre Fabriken zu und widmeten sich fortan ganz anderen Geschäften – doch dazu später.

Pure Armut und Kinderarbeit

Pure Armut, härteste und am schlechtesten bezahlte Spinn-, Web- und Stickarbeiten von Bäuerinnen, Bauern und vor allem auch ihren Kindern – das alles stand an der Wiege der Vorarlberger Textilindustrie. Schon in Hochmittelalter und früher Neuzeit war im Rheintal und im Bregenzerwald Flachs angebaut und in Heimarbeit zu Leinengarn verarbeitet worden, später kamen neue Impulse vor allem aus der Ostschweiz, von wo die erste Baumwolle angeliefert wurde. "Die Landbevölkerung war sehr arm, die Bauern in den Gebirgstälern konnten sich nicht von ihren Produkten ernähren, also war die Heimarbeit im 18. und 19. Jahrhundert hochrelevant für sie", erklärt Peter Melichar vom Vorarlberg-Museum in Bregenz. Die Billigstarbeitskräfte im Ländle waren vor allem für die Fabrikanten aus der Ostschweiz ein Segen, waren doch dort im 18. Jahrhundert die Arbeitskräfte knapp geworden.

Damals etablierte sich das Verlagswesen: Die Unternehmer, die sogenannten Verleger, ließen den Bäuerinnen und Bauern über Mittelsmänner, die Fergger, das Rohmaterial wie Baumwolle, Garne oder Stoffe zustellen, sie übernahmen dann das Spinnen, Sticken und Weben. War das geschehen, wurde die fertige Ware abgeholt und verkauft. In der Folge gründeten Schweizer erste Niederlassungen im Ländle und standen damit mitten im riesigen Markt der Monarchie – auf der anderen Seite nutzten die Vorarlberger das Know-how, das so in ihr Land kam.

Schon Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden erste Manufakturen wie eine Baumwollhandweberei in Bregenz, "der erste große Boom der Textilindustrie setzte um 1830 ein, vor allem im Rheintal und überall, wo es Wasserkraft gab", erklärt der Historiker und Geschäftsführer des Wirtschaftsarchivs Vorarlberg, Gerhard Siegl. Wasser für den Antrieb erster mechanischer Spinnereien und Webereien: Das nützten damals schon die Ex-Fergger Hämmerle oder Kaufleute aus den Familien Herrburger und Rhomberg, Ganahl und Getzner, die sich ins Fabrikantentum gewagt hatten.

Wasserkraft als Motor

Getzner wurde 1818 gegründet, zunächst betrieb man auch einen kleinen Kolonialwarenladen, wie Manfred Getzner erzählt. Er war 50 Jahre lang im Unternehmen als Manager tätig und schied vor drei Jahren aus dem Aufsichtsrat aus. Firmengründer Christian Getzner hatte bei Ganahl (war schon 1797 gegründet worden) gelernt, machte sich danach selbstständig und tat sich dann mit seinen Kollegen zusammen. 1820 gründete er mit den Fabrikanten Ganahl und Escher-Wyss aus der Schweiz eine gemeinsame Spinnerei bei Bludenz. Die Maschinen seien aus Großbritannien gekommen, das Know-how hätten die Schweizer mitgebracht, erzählt Geschichtsexperte Getzner.

Nachdem diese Spinnerei abgebrannt war, trennten sich die Wege: Ganahl machte in Feldkirch weiter, Getzner baute seine erste Spinnerei 1831 in Nenzing. Wasser für den Antrieb der Maschinen gab es auch dort: In Nenzing fließen Meng und Ill zusammen, in Bürs, wo Getzner, Mutter & Cie 1836 die sechsstöckige Spinnerei und Weberei Lünersee erbauen sollte, fließt der Alvierbach. Allein das Fabriksgebäude war eine Sensation, "für damals war das ein Wolkenkratzer", sagt Getzner zum längst unter Denkmalschutz stehenden Gebäude, das heute ein Einkaufszentrum beheimatet. 1908 hatten hier Spinnereiarbeiter den Zehnstundentag bei vollem Lohnausgleich erstreikt.

Eine riesige weiße Fabrik ist zu sehen, daneben ein alter Fabriksschlot und moderne Geschäfte.
Getzner Fabrik
In der 1985 stillgelegten und denkmalgeschützten ehemaligen Textilfabrik Getzner, Mutter & Cie Lünersee in Bürs ist heute ein Einkaufszentrum untergebracht.
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Erste Stromproduzenten

An den Bächen und Flüssen wurden also die Fabriken angesiedelt, und je größer die Wassermenge war, die zur Verfügung stand, desto größer war auch der Output. Das Feldkircher Unternehmen Escher, Wyss, Kennedy & Co. betrieb schon 1827 mit zwei modernen Wasserrädern 24.000 Spindeln, schreibt Annette Bleyle in ihrer Arbeit über die "Entstehung und Entwicklung der Vorarlberger Industrie". Eine enorme Menge: Alle anderen Spinnereien Vorarlbergs zusammen besaßen damals 26.000 Spindeln.

Es verwundert wenig: Die Fabrikanten stiegen auch in die Stromproduktion ein, wurden zu "Pionieren der Energiegewinnung", wie es Historiker Melichar ausdrückt. F.M. Hämmerle gehörte zu diesen Pionieren, auch Getzner, Ganahl oder Jenny & Schindler, die 1890 ein E-Werk errichteten, das Strom erstmals für den Eigenbedarf erzeugte sowie auch an andere lieferte, zum Beispiel an die Stadt Bregenz. Als besonderer Elektrizitätsfan erwies sich dabei Fritz Wilhelm Schindler, der den Familiensitz, die Villa Grünau in Kennelbach, vollständig elektrifizieren ließ und bei der Weltausstellung in Chicago 1893 die erste vollelektrische Küche vorstellte. Davor, 1881, hatte Kaiser Franz Joseph bei Hämmerles das erste Außer-Haus-Telefon der Monarchie feierlich in Betrieb genommen: die Verbindung zwischen der Spinnerei Gütle und dem mehr als vier Kilometer entfernten Kontor der Hämmerles im Dornbirner Oberdorf.

Massenhaft Fabriksarbeit

Mit der Heimarbeit war es damals jedenfalls vorbei, Bauern waren gezwungen, aus den Bergen abzuwandern und in die Fabriken zu kommen, wollten sie weiter Geld verdienen. "Die sozialen Probleme waren riesig", meint Getzner, die Arbeitszeit sei jener der Bauern angepasst worden, gearbeitet werden musste bis zu 14 Stunden pro Tag. Kinderarbeit sei "selbstverständlich" gewesen, zum einen aus der Not der Familien heraus und zum anderen, "weil sich Kinder mit ihren kleinen, feinen Händen beim Garnanknüpfen und mit den Fäden und Maschinen leichter taten als Erwachsene mit klobigen Bauernhänden". Andererseits errichteten die Fabrikanten Wohnungen, Kindergärten und Werksküchen, um ihr Personal zu versorgen.

Sehr lang brummte der Motor der Textilindustrie im Billiglohnland Vorarlberg, nach einem Tief in der Zwischenkriegszeit waren nach 1945 wieder rund 30 Prozent der Erwerbstätigen in der Branche beschäftigt. In den 1950ern und 1960ern, als die ersten Gastarbeiter ins Land geholt wurden und Strick- und Wirkwaren erzeugt wurden, war dann die letzte Blütezeit erreicht. 20 Jahre später war der Glanz dahin: Lohnerhöhungen führten zu Kostendruck und Preisanstieg, die Konkurrenz aus Billiglohnländern wie Indien, China oder Bangladesch gewann die Oberhand. "Vorarlberg hat lang durchgehalten, aber dann war es nicht mehr zu schaffen", fasst es Historiker Siegl vom Wirtschaftsarchiv zusammen. Etliche Unternehmen gingen pleite, viele sperrten zu – nur ein paar wenige konnten sich retten.

Das Fabriksgebäude der Getzner Textil AG in Bludenz, im Hintergrund ein Fabriksschlot
Vorarberg Serie
Die Getzner Textil AG beliefert heute Westafrika mit glänzenden Damaststoffen sowie die Autoindustrie und erzeugt Dämmmaterial für den Bau.
Imago/Chromorange

Spezialisiert oder umgesattelt

Getzner etwa: Die Bludenzer Getzner Textil AG mit 1.500 Beschäftigten und einem Umsatz von 446 Millionen Euro hat vor allem dank seiner Damaststoffe für den afrikanischen Markt überlebt, erklärt Manfred Getzner, mit "hochglänzenden Stoffen, die wir in Europa nicht verkaufen könnten und die die Chinesen noch nicht erzeugen können". Zudem erzeugt man Gewebe für Schutzbekleidung und Autoindustrie sowie Werkstoffe für Dämmmaterial für den Bau und Gleiskörper.

Andere, wie Ganahl, haben umgesattelt: Das Subunternehmen der Textilerzeuger, Rondo Ganahl, hatte schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts Papierhülsen für Garnspulen erzeugt, heute gibt es "nur" noch Rondo Ganahl. Das Unternehmen produziert jährlich rund 370.000 Tonnen Wellpappeverpackungen, 125.000 Tonnen Papier und sammelt 60.000 Tonnen Altpapier ein. Rhomberg wiederum ist im Baugeschäft ein großer Player, und die F.M. Hämmerle Holding verwertet, revitalisiert und erweitert ihre "textilen Industriestandorte", wie es auf der Homepage der Dornbirner heißt.

Sprung in neue Technologien

Eine Krise gab es nicht nach dem Sterben der Textilindustrie, andere Industrien haben den Ausfall kompensiert. Die gute geografische Lage samt Orientierung an der Schweiz, alte Kontakte sowie ausgeprägter Erfinder- und Unternehmergeist hätten einander befruchtet und Synergien geschaffen, "die Region ist explodiert", beschreibt es Historiker Siegl. Die Vorarlberger Industrie habe "die Transformation zum Hochtechnologiestandort querbeet in allen Branchen geschafft", konstatiert auch der Vorstandschef der börsennotierten Zumtobel Group, Alfred Felder. Die Vorarlberger mit ihrem extrem ausgeprägten Unternehmergeist hätten die Gabe, Alteingesessenes hinter sich zu lassen und sich begeistert auf neue Themen einzulassen, erklärt der gebürtige Südtiroler.

Die Firmenzentrale des Leuchteherstellers Zumtobel in Dornbirn mit dem Firmenlogo
Zumtobel
Die Zumtobel Group in Dornbirn beliefert hundert Länder der Welt, seit Herbst gibt es einen eigenen Vorstandsdirektor für das Thema technologische Transformation.
Imago/Chromorange

Der Leuchtenhersteller selbst, der zuletzt 1,2 Milliarden Euro Umsatz und 60 Millionen Euro Gewinn eingefahren hat, hat binnen fünf Jahren komplett auf LED-Technologie umgestellt und habe aus den rasanten Technologieschüben gelernt, erklärt Felder sinngemäß; nun beschäftige man sich natürlich auch mit Themen wie künstlicher Intelligenz. Seit November gibt es für derlei Innovation auch eine eigene Vorstandsposition, den Chief Digital Transformation Officer.

Dort, wo früher also gesponnen, gestickt und gewebt wurde, ist heute die Hightech daheim. (Renate Graber, 13.8.2023)