Am 1. September geht in Russland die Schule wieder los. Und die Schülerinnen und Schüler der zehnten und elften Klassen werden ein ganz neues Geschichtsbild vorfinden: Jetzt wurde ihr vollständig überarbeitetes Geschichtsbuch in Moskau von Sergej Krawzow, dem russischen Bildungsminister, präsentiert. Das Thema sei zentral, sagt er. "Unser Präsident hat wiederholt gesagt, dass es unmöglich ist, das historische Gedächtnis zu verfälschen; und dass es wichtig ist, dass in den Schulen objektive Fakten vermittelt werden."

Der russische Bildungsminister Sergej Krawzow stellte die neuen Bücher in Moskau vor.
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Und diese "objektiven Fakten" haben es in sich. Die Abschnitte über den Zeitraum von 1970 bis 2000 wurden komplett neu geschrieben und außerdem ein neues Kapitel über die Zeit von 2014 bis zur Gegenwart hinzugefügt. Ein eigener Abschnitt ist der "Sonderoperation" in der Ukraine gewidmet. Diese habe das Ziel, "die Feindseligkeiten in der Ukraine zu stoppen".

Breites Thema ist auch die Beziehung Russlands zum Westen im 21. Jahrhundert. Da geht es dann um den "Druck der USA", um "Geschichtsfälschung" und die "Wiederbelebung des Nationalsozialismus". Die "Destabilisierung der Lage innerhalb Russlands" sei die "feste Idee" der westlichen Länder.

"Einzigartige Zeiten"

Beispiele dafür: die Sanktionen, der Rückzug westlicher Firmen aus Russland. Aber, so heißt es im Schulbuch: "Solche einzigartigen Zeiten kommen in der Geschichte nicht oft vor. Nach dem Wegzug ausländischer Unternehmen stehen Ihnen viele Märkte offen. Fantastische Karrieremöglichkeiten in der Wirtschaft und bei Ihren eigenen Start-ups stehen Ihnen offen. Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen. Heute ist Russland wirklich ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten."

Einer der wichtigsten Autoren des neuen Schulbuches ist der Politologe und mit Auszeichnungen versehene Journalist Armen Gasparjan vom Zentralrat der russischen Militärhistorischen Gesellschaft. Der Autor vieler Bücher war auch Manager in russischen Staatsmedien.

Schon mit bloßem Auge sei zu erkennen, dass vieles im neuen Schulbuch "nicht von einem Lehrer oder Historiker, sondern von einem Publizisten verfasst wurde", so das Onlinemedium Fontanka, das auch einen Geschichtslehrer um Bewertung bittet: "Die Auswahl der Fakten ist sehr einseitig, alles ‚Überflüssige‘ wird ignoriert. Schätzungen darüber, was passiert, sind voreingenommen."

Das Kartenmaterial in dem neuen Buch thematisiert die Annexion der Krim genauso wie die "Spezialoperation" in der Ukraine.
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Ein anderer meint: "In dem Teil, in dem es um das moderne Russland geht, wurden Problembereiche abgeschwächt, obwohl das Land immer noch unter den negativen Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion leidet. Meiner Meinung nach wird unsere Zeit idealisiert." Fazit von Fontanka: Das Schulbuch sei wie "aus dem sowjetischen Informationsbüro".

Im kommenden Jahr werden laut Bildungsministerium dann auch neue Geschichtsbücher für die fünften bis neunten Klassen erscheinen.

Gefährlicher Lehrstoff

Vordenker des neuen russischen Geschichtsbilds ist der Ex-Kulturminister und Präsidentenberater Wladimir Medinskij. Seit April dieses Jahres sei am neuen Geschichtsbuch gearbeitet worden, sagte er bei der Buchpräsentation. Und lobte vor allem die Verarbeitung als Hardcover: "Dadurch können sie es so machen, wie es in der Sowjetzeit war, als das Lehrbuch fünf Jahre lang diente."

Für den Historiker und Soziologen Mikhail Rozhansky geht es um viel mehr als um einzelnes Geschichtsbuch: Der neue Trend sei sowohl für Lehrer als auch für zukünftige Generationen gefährlich. Lehrer könnten Probleme bekommen, wenn ihr "Unterricht nicht mit der Sichtweise des Staates übereinstimmt". Und: "Die Ergebnisse der Einführung dieses Systems in der Schule sind der Weggang unabhängiger Lehrer oder deren Anpassung, ein schlechtes Beispiel für die Schüler. Massennihilismus unter Teenagern haben wir schon lange nicht mehr gesehen. Wir werden das sehen. Und die Zahl der Opportunisten wird zunehmen." (Jo Angerer aus Moskau, 12.8.2023)