Schauplatz Sankt Petersburg, Ende Juli: Gut einen Monat nach dem "Marsch der Gerechtigkeit" seiner Wagner-Söldner gen Moskau hält Jewgeni Prigoschin am Rande von Wladimir Putins Afrika-Gipfel in einem Luxushotel Hof. Seelenruhig schüttelt er die Hände afrikanischer Honoratioren – ganz so, als wäre nichts geschehen.

CNN berichtet über den Auftritt Prigoschins in St. Petersburg.

Dabei hatte es am Vormittag des 24. Juni für einige Stunden so ausgesehen, als ließe Prigoschin in seinem Furor in Russland keinen Stein auf dem anderen – das Wort "Putsch" geisterte durch die westlichen Medien. Während sich Prigoschins Getreue ihren Weg Richtung Moskau bahnten, kanzelte Putin seinen einstigen Verbündeten als "Verräter" ab – in Russland eine Morddrohung. Die Welt hielt den Atem an.

Größte Herausforderung seit 2000

Nicht nur ein Angriff auf Moskau, sondern auch das Ende Putins und in weiterer Folge das Ende des Ukrainekriegs schienen denkbar. Bloß: Die Hoffnung währte nicht lang. Ein vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vermittelter Deal, dessen Hintergründe bis heute nicht ganz geklärt sind, beendete den Spuk, der Putin stärker herausforderte als jemals zuvor in dessen zwei Jahrzehnten im Kreml.

Jewgeni Prigoschin grinst aus Auto.
Jewgeni Prigoschin fühlte sich nach dem mysteriösen Abzug seiner Kämpfer aus Rostow am Don wie ein Sieger.
AP

Was bleibt rund 50 Tage danach von Wagners Aufstand? Und wie geschwächt ist Putin? DER STANDARD hat Fachleute gefragt, wer bisher von der Episode profitiert hat und wer nun um seine Macht fürchten muss.

"Es ist erstaunlich, dass Prigoschin offenbar wieder bei bester Laune ist, obwohl ihn Putin des Verrats beschuldigt hat", sagt der Schweizer Russland-Forscher Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen. Tatsächlich ist Prigoschin bisher weder aus dem Fenster gestürzt, wie es anderen Putin-Kritikern passiert ist, noch wurde er vergiftet.

Und wie das Beispiel Afrika-Gipfel zeigt, weilt er noch nicht einmal wie vereinbart im belarussischen Exil. Schmid: "Der Grund, warum der Kreml ihn bisher nicht losgeworden ist, liegt in Afrika."

Putins nützlicher Idiot

In der Ukraine und in Russland selbst mag Prigoschin, vorerst jedenfalls, keine Rolle mehr spielen – in Afrika aber dient er dem Kreml nach wie vor als nützlicher Idiot, der sich noch weniger um Diplomatie kümmern muss als das Regime selbst. Nach dem Putsch im Niger etwa bot er der dortigen Junta seine Dienste an. "Russland kann auf Wagner derzeit nicht verzichten", sagt Wolfgang Mueller vom Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien.

Am Sonntag meldete der britische Geheimdienst allerdings, dass der Kreml die lange geleugnete Finanzierung der in Belarus gelandeten Wagner-Truppen einstellen wolle. Prigoschin selbst hat seine zwischenzeitlich konfiszierten Waffen sowie sein Privatvermögen freilich längst wieder zurückerhalten – so als wäre nichts geschehen. Doch wie steht es um die anderen Machtzentren in Russland? Und wie haben die Ukraine und der Westen reagiert?

Wladimir Putin wird die Geister, die er rief, nun nicht mehr los

Russlands Präsident mag die Kraftprobe mit Söldnerführer Prigoschin vorerst gewonnen haben – seine Machtbasis jedoch wurde bei dem 24-stündigen Aufstand im Kern getroffen. "Putins Macht war lange auf dem Versprechen aufgebaut, Sicherheit und Stabilität zu garantieren. Prigoschins Vormarsch auf Moskau war ein enormer Autoritätsverlust", sagt der Slawist Schmid. Fest steht: Die Machtvertikale, auf der Putins Herrschaft seit Jahrzehnten fußt, ist ins Wanken geraten. Weil er vor einer neuen Einberufungswelle zurückschreckt, hat er sich zudem von unsicheren Kantonisten wie Prigoschin abhängig gemacht.

Wladimir Putin muss nun seine Macht wieder konsolidieren.
AP/Gavriil Grigorov

Jüngst räumte der Kreml den Gouverneuren des Riesenreichs das Recht ein, Militärunternehmen zu gründen. Das Monster, das Putin geschaffen hat, könnte bald abermals außer Kontrolle geraten. "Der Mythos der Unfehlbarkeit Putins ist schon seit dem Scheitern der Anfangsoffensive in der Ukraine erschüttert", sagt Osteuropa-Fachmann Mueller.

Prigoschins Intimfeinde in der Armeeführung blieben im Amt

Lange hat Putin den Söldnerführer trotz seiner Tiraden gegen seinen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow gewähren lassen – vielleicht zu lange. "Die gegenseitige Konkurrenz von Kräften in der zweiten Reihe ist generell ein Herrschaftsinstrument von Monokraten", sagt Osteuropawissenschafter Mueller. Als Prigoschin am Tag der Meuterei weiter gegen die Armeeführung vom Leder zog und deren Auslieferung forderte, schien das Maß aber voll. "Die Armee ist sicherlich blamiert, weil sie den Aufstand nicht so schnell stoppen konnte und ja auch Hubschrauber abgeschossen wurden."

Generalstabschef Waleri Gerassimow hat sich vorerst durchgesetzt.
AP/Gavriil Grigorov

Zugleich können Schoigu und Gerassimow, Prigoschins Intimfeinde, nun aufatmen, weil "dieser Stachel in ihrem Fleisch" gezogen ist. Ihre Dienstleistung haben die Söldner mit der Eroberung Bachmuts ohnehin erfüllt – unter hohen Opferzahlen. Künftig wird die Armee in der Ukraine ohne sie als "Kanonenfutter" auskommen müssen.

Keine Atempause für die angegriffene Ukraine

Weil sich in den wenigen Stunden, in denen ein Sturz Putins zumindest denkbar schien, an der Front wenig Konkretes tat – was der angegriffenen Ukraine Hoffnung gab –, bediente sich Kiew einer Rhetorik des Metaphysischen: "Jeder, der den Weg des Bösen wählt, zerstört sich selbst", twitterte Wolodymyr Selenskyj am Samstag, als Prigoschin dabei war, Kilometer um Kilometer auf Moskau vorzurücken. Kyrylo Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, übte sich in Nadelstichen: Prigoschin habe schon recht mit seinen Klagen – etwa was Munitionsmangel betrifft –, man sei Zeuge eines "Kampfes zwischen Lüge und Wahrheit".

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj konnte keinen großen Profit aus dem Chaos schlagen.
IMAGO/Pool /Ukrainian Presidenti

Echten Profit vermochte die Ukraine aus den Chaostagen in Russland freilich nicht zu schlagen, jedenfalls nicht kurzfristig. Große Truppenverlegungen blieben aus, Russlands Luftschläge gingen auch während des Wagner-Aufstands weiter. "Dafür war er viel zu schnell wieder zu Ende", sagt Mueller.

Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko gewinnt an Statur

Ganz dürfte Alexander Lukaschenko seinen Traum, dereinst als Präsident über einen russisch-belarussischen Unionsstaat zu herrschen, noch nicht aufgegeben haben. Sein Prestigeerfolg, eine Konfrontation zwischen Armee und Wagner verhindert zu haben, hat sein Profil jedenfalls auch im weit größeren der beiden Länder geschärft. Wohl auch deshalb, weil es einem russischen Politiker schlecht zu Gesicht gestanden wäre, als Vermittler zwischen Präsident und "Verräter" aufzutreten, hatte sich Lukaschenko als Mediator angedient.

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bewies guten politischen Instinkt.
AP/Alexander Zemlianichenko

"Er hat sich wieder einmal durch seinen politischen Instinkt ausgezeichnet", sagt Schmid. Bis heute weigert sich der belarussische Machthaber, seine Truppen an Moskaus Seite in die Ukraine zu entsenden. Und die Wagner-Söldner, die nun in Belarus campieren, könnten in Zukunft auch gegen Lukaschenkos innere Feinde aufmarschieren. Zuletzt mehrten sich aber Berichte, wonach Wagner schon bald wieder abziehen könnte. Weigert sich Moskau tatsächlich, weiterhin den Sold für die in seinem Land stationierten Kämpfer zu zahlen, müsste Lukaschenko finanziell einspringen.

Prigoschin-Intimus Surowikin ist von Bildfläche verschwunden

Ein Sturmgewehr auf dem Schoß, ließ sich Sergej Surowikin, genannt "General Armageddon", am Abend der Rebellion dabei filmen, wie er seinen Bewunderer Prigoschin zur Kapitulation auffordert. Seit dem bizarren Auftritt fehlt von dem Mann, der eine Zeitlang die Invasionsarmee anführte, jede Spur. Er habe vorab von den Plänen Prigoschins gewusst, berichtete die New York Times kurz nach dem Aufstand. Ob er diesen dabei auch unterstützt hat, bleibt vorerst im Dunkeln. Unklar ist auch, ob Surowikin unter Hausarrest steht, wie Familienmitglieder sagen.

Das Schicksal von Sergej Surowikin ist derzeit ungeklärt.
AP

Von der großen Säuberungswelle, die etwa russische Militärblogger nach der Rebellion vehement gefordert hatten, ist bislang jedenfalls nichts zu bemerken. "Das mag damit zusammenhängen, dass unter den derzeitigen Bedingungen das Gleichgewicht in den Streitkräften zu labil ist und die Führung verhindern will, dass es irgendwann tatsächlich in den Streitkräften zu einer Meuterei kommt", sagt Mueller.

USA und EU zeigen demonstrative Gelassenheit

Die Staatskanzleien zwischen Warschau und Washington waren in den Stunden des Chaos tunlichst bemüht, die "innere Angelegenheit" Russlands zu betonen – und betrachteten den Vormarsch des Söldnerchefs mit gespanntem Interesse. Man ließ auch deshalb Vorsicht walten, weil man die tausenden russischen Atomsprengköpfe ungern in "falsche Hände" geraten sehen würde, wie es aus Österreich hieß – ganz so, als seien sie nun in den richtigen.

US-Außenminister Antony Blinken verbiss sich jede Freudenbekundung – zu Recht.
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"Der Westen hat einen sehr vernünftigen Zugang gefunden", sagt der Osteuropawissenschafter Mueller. Auch das Statement von US-Außenminister Antony Blinken, wonach man neue Risse im Machtgefüge des Kreml orte, deutet darauf hin, dass der Westen keinen schnellen Wandel in Russland erwartet. Polen, das zu Kiews stärksten Waffenbrüdern zählt, hat es nun mit womöglich tausenden Wagner-Söldnern an seiner Grenze in Belarus zu tun – und fürchtet, sie könnten genau dort neues Chaos anrichten. (Florian Niederndorfer, 14.8.2023)