Eine Kundin kauft in einer Wechselstube in Ankara Dollar.
Wer kann, wechselt sein Geld in Dollar oder Euro. Die türkische Lira verliert fast täglich an Wert, wer in Besitz von Devisen ist, dem geht es besser.
AFP/ADEM ALTAN

Nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai dieses Jahres kommt jetzt die Quittung. Wahlsieger und Dauerpräsident Recep Tayyip Erdoğan lässt die Steuern anheben und treibt so die Inflation weiter in die Höhe. Das Ergebnis sind weiterhin steigende Lebensmittelpreise, die im Jahresdurchschnitt bei über 100 Prozent liegen dürften, und eine zunehmend verarmte und verbitterte Bevölkerung.

Normalerweise leert sich die türkische Megametropole Istanbul in den heißen Sommermonaten merklich. Die Staus auf den Straßen nehmen ab, die Einkaufszentren sind leer, und in den Cafés und Restaurants gibt es viel Platz. Nicht so in diesem Jahr. Mitte August ist die Stadt so voll wie sonst erst immer im Oktober, wenn der Sommer vorbei ist und das Leben wieder seinen normalen Gang geht.

Kein Geld für Urlaub

"Die Leute haben kein Geld mehr, um in den Urlaub zu fahren", bestätigt ein Taxifahrer den Eindruck, "die Straßen sind voll wie immer." Auch die Tourismusindustrie klagt. Viele Hotels seien nicht ausgelastet. "Zuerst blieben die Leute im Mai zu Hause, weil sie die Wahlen nicht verpassen wollten, und als feststand, dass alles beim Alten bleiben würde, hielten sie ihr Geld zusammen, weil schnell klar war, dass die Krise genauso bleiben würde wie Erdoğan", sagt ein Bootsbetreiber bei Marmaris, der normalerweise viele Inlandsgäste hat.

Dazu beigetragen hat auch die Tourismusbranche selbst. Preise für Hotels stiegen gerade für Einheimische in schwindelerregende Höhen, auch ein Restaurantbesuch ist finanziell eine Zumutung. Während ausländische Pauschaltouristen in der Türkei noch vergleichsweise preiswert Urlaub machen können, weil große Reiseveranstalter ihre Hotelkontingente bereits Ende 2022 gekauft haben und der Lira-Verfall Touristen aus dem Euroraum entgegenkommt, schlagen die Hotelbetreiber bei türkischen Touristen massiv zu.

Sorgen um täglichen Einkauf

Auf der bei türkischen Urlaubern beliebten Ägäisinsel Bozcaada vor Troja – das ist eine von nur zwei türkischen Ägäisinseln – kostet das primitivste Pensionszimmer nicht unter 100 Euro. An der Mittelmeerküste sind die Preise noch höher, und da in diesem Jahr auch viele russische Touristen zu Hause geblieben sind, haben selbst in der Hochsaison viele Hotels noch etliche freie Kapazitäten. Angeblich sind daran die vielen privaten Vermieter schuld, für die die Regierung jetzt ebenfalls die Steuern erhöhen will.

Doch Hotelpreise sind für die meisten Türken und Türkinnen inzwischen sowieso ein Luxusproblem. Bei den meisten Familien geht es schlicht um den täglichen Einkauf. "Ich habe mittlerweile fast das Gefühl für den Wert des Geldes verloren", gesteht eine Nachbarin angesichts der immer schneller steigenden Preise. Kostete ein Bier vor wenigen Monaten 20 Lira, sind es jetzt 45 Lira. Vor wenigen Tagen hat Erdoğan außerdem noch die Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent erhöht, was Inflation und Preise noch weiter antreibt.

Ein Straßenverkäufer in Istanbul presst Saft aus Orangen
Der Preisauftrieb macht in der Türkei vor nichts halt: Auch Orangen sind teurer geworden, frisch gepresster Orangensaft sowieso.
EPA/SEDAT SUNA

Vergangenes Jahr waren 200 Lira, der größte Schein, den die türkische Währung bis jetzt kennt, noch richtig viel Geld. Mittlerweile kann man seine Karte für den öffentlichen Nahverkehr mit dem größten Schein aufladen, und es reicht nur mehr für ein, zwei Tage.

Die Währung ist kaum noch etwas wert. Allein heuer hat die Lira erneut 30 Prozent auf Dollar und Euro verloren. Für einen Euro muss man jetzt schon 30 Lira zahlen, vor der Wahl waren es noch 22 Lira.

Damit ist das nach der Wahl neu installierte Duo für die Finanzpolitik, Finanzminister Mehmet Şimşek und die Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan, beide westlich ausgebildete Investmentbanker, fast schon wieder am Ende. Beide sollten eine Rückkehr zu einer "rationalen Finanzpolitik" signalisieren, doch die bisherigen eher zaghaften Erhöhungen des Leitzinses auf 17,5 Prozent haben die Inflationsrate nicht drücken können. Im Gegenteil, vor wenigen Tagen musste Frau Erkan bekanntgeben, dass die Inflation von Juni auf Juli von 39 auf 49 Prozent gestiegen ist. Bis Ende des Jahres rechnet sie jetzt mit 60 Prozent durchschnittlicher Jahresinflation – statt den erhofften 25 Prozent.

Opposition befürchtet Ausverkauf

Eine relevante Minderung der Inflation soll nun erst Ende 2025 erreicht werden, wenn überhaupt. Unabhängige Experten gehen sowieso davon aus, dass die reale Inflation bei weit über 100 Prozent im Jahr liegt.

Mehmet Şimşek, der westliche Investoren wieder für die Türkei gewinnen wollte, tingelte stattdessen durch die Arabischen Emirate, Katar und Saudi-Arabien, um dringend benötigte Milliarden Dollar zusammenzukratzen, die die Türkei Erdoğans vor der Staatspleite retten sollen. Gut 50 Milliarden soll er zusammenbekommen haben, immerhin ein Erfolg für Erdoğan, wie auch westliche Analysten sagen. Doch niemand weiß, was er dafür versprechen musste. Die Opposition mutmaßt, dass der Präsident dafür den Ausverkauf des Landes betreibt und wertvolle Liegenschaften und Staatsbetriebe wie Turkish Airlines verscherbeln könnte.

(Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 14.8.2023)