Die Taktiktafel ist noch immer ein wichtiges Utensil.
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Der 60-jährige Niederösterreicher Manfred Uhlig ist sehr sportlich. Mit seiner Frau, einer AHS-Direktorin und Marathonläuferin, war er 2018 auf dem Kilimandscharo. "Ich bin superfit, fühle mich wie 45. Ich mache viel für den Geist und den Körper: Laufen, Krafttraining, Tennis. Und im Tischtennis gewinne ich gegen meine zwei Söhne." Der frühere österreichische Teamchef Professor Branko Elsner (gestorben 2012) war sein Lehrmeister. Mittlerweile hat Uhlig "bestimmt zehntausend" Trainer aus- oder weitergebildet. Mit dem Burgenländer Co-Autor Roland Leser (46), einem Experten für digitale Spielanalyse, hat er das Buch Das Fußballspiel unter der Lupe – Wie moderne Spielanalyse funktioniert für Fußballinteressierte geschrieben.

STANDARD: Kann eine mit der Devise "Gehts auße und spüts eicha Spü!" aufs Feld geschickte Mannschaft im Profifußball noch reüssieren?

Uhlig: "Gehts raus und spielts Fußball" hat auch Franz Beckenbauer seinerzeit gesagt. Da war eine hohe Spielkompetenz der Spieler vorhanden. Sie haben sich selbst organisiert, aber heute brauchst du unbedingt einen Matchplan. Man muss die Gegner genau analysieren und eine Strategie entwickeln. Welche Räume können bespielt werden, um den Gegner zu knacken? Und es braucht Freiraum für die Kreativität und die Selbstorganisation. Real-Trainer Carlo Ancelotti gibt den Spielern viele Freiräume zur Entfaltung. Was will man einem Toni Kroos oder Luka Modrić noch viel erklären? Leider kommt die Selbstorganisation gerade im Nachwuchsbereich oft zu kurz. Sie ist aber wichtig, um Führungsspieler zu entwickeln.

STANDARD: Liegt die Wahrheit noch auf dem Platz?

Uhlig: Sie liegt natürlich auch in der konditionellen und mentalen Vorbereitung, der Analyse, der Wettkampfeinstimmung, der Mentalität. Letztendlich ist schon auch entscheidend, dass man auf dem Platz bei unvorhersehbaren Ereignissen anpassungsfähig und flexibel agieren kann, weil ein Spiel selten so abläuft, wie man es im Kopf hat. Die Fergie-Time bei Manchester United kam ja nicht von ungefähr. Ich war 2005 bei Alex Ferguson hospitieren. Da waren ganz klare Strategien zu erkennen, was in den jeweiligen Situationen zu machen ist. Diese Anpassungsfähigkeit muss schon im Jugendbereich methodisch entwickelt werden.

Uhlig und Leser mit ihrem Buch.
Die Autoren Uhlig (li.) und Leser mit ihrem Buch.
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STANDARD: Wie sehr muss sich ein Trainer heute mit der Wissenschaft auseinandersetzen?

Uhlig: Es braucht einen wissenschaftlichen Zugang, Synergien. Es ist in der Trainerausbildung das Entscheidende, dass man moderne sportwissenschaftliche Erkenntnisse aus dem konditionellen, mentalen, taktischen und technischen Bereich für Spieler so vermittelt, dass sie verständlich sind. Es geht um die Reduktion des Komplexen. Ich denke da auch an Faktoren wie Verletzungsvorbeugung oder Methoden des taktischen Trainings. Aber wir brauchen das Spiel nicht verwissenschaftlichen. Es ist noch immer ein von der Struktur her recht einfaches Spiel, das man nicht verkomplizieren soll.

STANDARD: Warum klappt es im Frauenfußball mit der Verletzungsvorbeugung weniger gut als bei den Männern?

Uhlig: Der Frauenfußball interessiert uns in der Trainerausbildung immer mehr, da sind wir aber noch ziemlich am Anfang. Bei den Frauen ist das Bindegewebe viel schwächer als bei Männern. Man müsste sie besser vorbereiten, koordinativ und konditionell. Und auch den Menstruationszyklus beachten. Das wird noch viel zu wenig gemacht, man muss das individuell steuern, damit es nicht so viele Verletzungen gibt. Es gibt Frauen, die haben mit 22 schon drei Kreuzbandrisse hinter sich.

STANDARD: Es gibt viele Parameter wie etwa Key-Performance, Pressing-Index, Passeffektivität oder Expected Goals. Gibt es da Neues?

Uhlig: Es wird immer etwas verbessert, zum Beispiel bei den Expected Goals. Der Wert hat schon eine gute Aussagekraft, aber auch Schwächen. Er bezieht sich aber nur auf die Torschüsse. Was aber nicht bewertet wird, ist ein verfehlter Stanglpass, auch wenn es eine super Chance gewesen wäre. Wenn wir zum Beispiel bei Bayern München gegen Paris Saint-Germain Expected Goals von 3,1 vs. 1,6 haben, dann sagt das schon was aus, weil es letztendlich um Abschlüsse geht. Der PPDA-Wert (Passes per Defensive Action, Anm.) sagt aus, ob mein Spielkonzept im Sinne des Pressings umgesetzt wird. Es kommt dann auf die Qualität des Betreuerstabs an, diese Daten entsprechend auszuwerten und zu vermitteln.

STANDARD: Ist die Synergie zwischen Fußball und Sportwissenschaft die Voraussetzung für den modernen Fußball?

Uhlig: Auf jeden Fall. In Mailand haben sie schon viele Jahre ein sportmedizinisches Zentrum. Sie legen Wert auf Trainingssteuerung und Verletzungsvorbeugung. Alessandro Costacurta spielte mit über 40 noch in der Champions League und ein Paolo Maldini noch mit 37. Und sie waren kaum verletzt, weil man das Training an ihr Leistungsvermögen angepasst hat. Das ist auch der Grund, warum Ronaldo und Co sicher bis über 40 auf hohem Niveau spielen können.

STANDARD: Teamchef Ralf Rangnick unterstreicht die Wichtigkeit von kognitivem Training ("Train the brain"). Inwieweit wird das in Österreich umgesetzt?

Uhlig: Es geht um Handlungsschnelligkeit. Das Wahrnehmen, Entscheiden und Ausführen soll einerseits schnell gehen und andererseits situationsspezifisch zu guten Lösungen führen. Das entwickelt man am besten durch das Spiel selbst. Das muss schon im Nachwuchsbereich beginnen, und da gibt es noch Luft nach oben, aber in Österreich wird darauf sehr viel Wert gelegt. Die Fußballtrainingslehre hat sich durchgesetzt, es wird alles sehr komplex trainiert.

STANDARD: Wird in der Bundesliga bei allen Vereinen mit modernen Methoden gearbeitet?

Uhlig: Der Spielanalyst hat sich durchgesetzt, auch wenn es lange gedauert hat. Im Ausland gibt es bei Spitzenvereinen allerdings zehn Spielanalysten.

STANDARD: In Ihrem Buch gibt es den Schwerpunkt "Spielen lernt man durch Fußballspielen". Welche Trainingsschwerpunkte sind essenziell?

Uhlig: Im Mittelpunkt stehen Spielformen auf Tore, auf Ziele. Es klingt banal, aber es ist so. Das war nicht immer so. Früher ist zu viel isoliert geübt und zu wenig gespielt worden. Heute weiß man, dass durch integrierende Spielformen alles trainiert werden kann: Mentalität, Siegeswille, technisch-taktische und konditionelle Fähigkeiten. Auf größerem Feld mit mehr Spielern geht es mehr in den aeroben, also Grundlagenausdauerbereich und auf kleinerem Feld geht es mehr in den anaerob-laktaziden Bereich. Es hat in den vergangenen Jahren Gott sei Dank einen Paradigmenwechsel gegeben.

STANDARD: Welchen Anteil hat der Trainer am Erfolg?

Uhlig: Der Trainer hat Fähigkeiten, Spieler weiterzuentwickeln. Im Scouting liegt natürlich auch viel drin. Es geht darum, dass man eine gute Synergie innerhalb der Mannschaft schafft, die Richtigen auswählt und nicht Egoisten als Stürmer aufstellt, die sich gegenseitig behindern. Es geht auch darum, ein gutes Klima zu schaffen, und ganz entscheidend ist die Sozialkompetenz. Der Trainer hat Einfluss, aber letztendlich müssen die Spieler auch ihre Leistung bringen und ihr Bestes geben. Es ist schon sehr fragwürdig, wenn bei ein paar Niederlagen immer die Trainer dran glauben müssen.

STANDARD: Oftmals führen just chaotische Szenen zum Torerfolg. Lässt sich das trainieren?

Uhlig: Unplanbare Situationen gibt es im Fußball zuhauf. Trainieren kann man das mit spielnahen Situationen mit vielen Veränderungsparametern. Mit mannigfaltigen Veränderungen kann man auch im Training diese Zufallsmomente provozieren. Volker Finke hat mit diesen Aspekten angefangen. Das wird immer mehr gemacht.

STANDARD: Welche anderen Sportarten empfehlen sich für Fußballer, um besser zu werden?

Uhlig: Nicht funktioniert zum Beispiel das Schwimmen. Den besten Transfer gibt es durch andere Ballsportarten. Weil Grundstrukturen wie Antizipation, Handlungsschnelligkeit und Spielmuster ähnlich sind.

STANDARD: In Österreich gibt es viele Trainer, die auch international einen sehr guten Ruf genießen, denken wir etwa an Ralf Hasenhüttl, Adi Hütter, Oliver Glasner oder Gerhard Struber. Hatten Sie die Herren auch unter Ihren Fittichen?

Uhlig: Ich habe bei Glasner, Hütter, und so weiter einige Beiträge liefern können, also ja. Aber ich maße mir nicht an, dass ich sie ausgebildet habe. Glasner, Hütter, Struber kommen alle aus der Salzburger Schule. Was die dort unabhängig von unserer staatlichen Trainerausbildung entwickelt haben, ist schon hochkarätig. Aber wir haben auch sehr erfolgreiche Trainer ausgebildet, etwa Peter Stöger.

STANDARD: Bereitet Ihnen die Entwicklung des Fußballs Sorgen?

Uhlig: Auch wenn es unpopulär ist, aber wir müssen von den Regeln her was ändern, damit der Fußball nicht an Attraktivität verliert. Sie sollten eine Nettospielzeit von 60 Minuten einführen. Beim Europa-League-Finale FC Sevilla gegen Roma war die Nettospielzeit in der zweiten Halbzeit in etwa 25 Minuten. Das macht mich narrisch.

STANDARD: Wie könnte man die Abseitsregel verbessern?

Uhlig: Experten werden über mich herfallen, aber ich würde das Abseits abschaffen, auch wenn es den Fußball taktisch komplett verändern würde. Aber dann würden viele Fehlerquellen wegfallen. Was da aufgeführt wird mit ein paar Zentimetern, das ist ein absoluter Blödsinn. Es ist ja auch eine Frage, wann das Abspiel wirklich war, der Ball deformiert sich ja. Wir haben eine Analyse in der Landesliga gemacht. Mehr als 50 Prozent der Entscheidungen sind falsch. Und die neuen Ideen sind aus meiner Sicht absoluter Schwachsinn.

STANDARD: Stört Sie das Gemotschkere während des Spiels?

Uhlig: Was es auch braucht, was auch in einem super Artikel im STANDARD stand: mehr Respekt vor dem Gegner und dem Schiedsrichter. Kein Reklamieren. Das muss aufhören. Es fängt schon beim Nachwuchs an, dass Kinder und Jugendliche ständig den Schiedsrichter kritisieren. Das ist ein Skandal, teilweise auch das Trainerverhalten. Der Schiedsrichter fällt eine Entscheidung, die darf auch falsch sein und ist zur Kenntnis zu nehmen. Trainer José Mourinho hat viel für den Fußball gemacht, war mit FC Porto seiner Zeit voraus, aber sein Verhalten bei FC Sevilla gegen Roma war indiskutabel. (Thomas Hirner, 14.8.2023)