Es war eine Riesenüberraschung, die Bernardo Arévalo am 25. Juni gelang. Entgegen den Prognosen schaffte es der Ex-Diplomat als Zweitplatzierter in die guatemaltekische Präsidentenstichwahl, die am Sonntag stattfinden wird. Dabei wird der 64-Jährige gegen Sandra Torres antreten. Die einstige First Lady gilt als Vertreterin der im Land so mächtigen Elite, der der Korruptionsbekämpfer Arévalo den Kampf angesagt hat. Binnen kurzer Zeit ist der Mitte-links-Politiker zum Hoffnungsträger geworden, den die Eliten – letztlich erfolglos – von der Stichwahl ausschließen wollten. Bei dieser stehen seine Chancen gut, in Umfragen liegt er deutlich voran. Im STANDARD-Interview skizziert er, was er im Falle seines Sieges mit dem Land vorhat.

Bernardo Arévalo
Bernardo Arévalo auf Stimmenfang bei einer Wahlveranstaltung in Sumpango. Geht es nach den Umfragen, wird er bei der Stichwahl zum neuen Präsidenten Guatemalas gekürt.
REUTERS/CRISTINA CHIQUIN

STANDARD: Guatemala hat eine Tradition der politischen Gewalt, und auch Sie wurden bedroht. Haben Sie Angst um Ihr Leben?

Arévalo: Nein, ich habe keine Angst. (Pause) Die Dinge werden ihren vorbestimmten Lauf nehmen. Wir haben unsere Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Die Regierung hat uns bereits mehr Sicherheitsbeamte geschickt. Und ich lege mir jetzt eine kugelsichere Weste zu, obwohl ich mich lange dagegen gewehrt habe. Aber nun habe ich keine andere Wahl.

STANDARD: Wenn Sie gewinnen, werden Sie keine Mehrheit im Kongress und auch die Justiz gegen sich haben. Wie kann man unter solch widrigen Umständen Regierungsfähigkeit herstellen, ohne in Populismus oder Autoritarismus zu verfallen?

Arévalo: Wir müssen eine neue Formel der Regierbarkeit finden. Im Moment funktioniert dies auf der Basis von korrupten Absprachen zwischen der Exekutive und Parteien oder Parlamentariern. Die Justiz, die so etwas verfolgen müsste, ist kooptiert. Wir haben stets gesagt, dass wir so nicht regieren und nicht mit den Korrupten paktieren wollen. Deshalb sind wir in die Stichwahl gekommen, weil wir damit den Nerv der Bevölkerung trafen, die dieses Stils überdrüssig ist. Dieser gesellschaftlichen Stimmung sind wir verpflichtet. Wir müssen ihr einen Raum geben. Nicht durch plebiszitären Populismus, sondern durch die Schaffung von Arbeitsmechanismen der Partizipation. Wir planen zum Beispiel ein Wettbewerbsgesetz. Das werden wir zuerst im Gespräch mit gesellschaftlichen Gruppen entwerfen und dann den Konsensvorschlag dem Parlament vorlegen.

STANDARD: Ein weiteres Problem ist der mickrige Haushalt. Die Einnahmen belaufen sich auf 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; sie erreichen nicht einmal den lateinamerikanischen Durchschnitt von 22 Prozent, der ohnehin schon niedrig ist. Werden die Steuern erhöht?

Arévalo: Nein, denn wie kann man von der Bevölkerung verlangen, mehr Steuern zu akzeptieren, wenn der Staat nichts zurückgegeben hat?

STANDARD: Man kann zum Beispiel die Steuern für Unternehmen erhöhen.

Arévalo: Aber das bringt andere Probleme mit sich. Wir sind der Meinung, dass es darum geht, die Institutionen zum Funktionieren zu bringen, damit die Bürger ihnen wieder vertrauen. Erst dann können wir diskutieren, welche neuen Steuern wir brauchen. Im Moment haben wir einen Staat, der kaum noch funktioniert. Selbst wenn wir mehr Mittel hätten, könnten wir sie nicht ausgeben, weil die bürokratischen Kapazitäten dafür nicht ausreichen. Mehr einzunehmen, das dann aber nicht auszugeben macht politisch keinen Sinn. Wir streben aber einen Fiskalpakt zum Ende unserer Amtszeit an. Er wird das Ergebnis einer ernsthaften gesellschaftlichen Diskussion sein und die Steuern auf das notwendige Maß anheben, in Übereinstimmung mit den Entwicklungszielen.

STANDARD: Geldüberweisungen von Migranten sind ein wichtiger Faktor für die Wirtschaft Guatemalas. Gleichzeitig ist es eine Priorität der USA, die Migration in den Norden zu stoppen. Sie üben Druck auf Länder wie Guatemala aus. Wie wollen Sie damit umgehen?

Arévalo: Wir müssen eine andere Art von Wirtschaft entwickeln, die weniger von Geldüberweisungen abhängig ist. Wir wissen, dass die Guatemalteken sehr an ihrem Land hängen, aber sie müssen es verlassen, weil sie keine Alternativen haben. Es gibt keine Arbeit und keine Unterstützung vom Staat, um voranzukommen, und im Staatsapparat gibt es viel Korruption. Genau das wollen wir ändern. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, aber wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, kann es sogar passieren, dass Migranten ins Land zurückkehren, um hier zu investieren.

Sandra Torres
Sandra Torres ist die Rivalin bei der Stichwahl.
AFP/JOHAN ORDONEZ

STANDARD: Der guatemaltekische Staat hat eine historische Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Die Kandidatin Sandra Torres hat ihnen ein Ministerium für indigene Völker versprochen. Was bieten Sie an?

Arévalo: Wir werden den Artikel 169 der Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) umsetzen, der eine vorherige Konsultation der indigenen Völker vor der Durchführung größerer Projekte in ihren Gebieten vorsieht. Das Übereinkommen wurde bereits ratifiziert, es muss nur noch durch eine entsprechende Verordnung in die Praxis umgesetzt werden. Wir unterstützen auch das Escazú-Abkommen (über Transparenz und den Schutz von Umweltaktivisten, Anm.), aber es liegt am Kongress, es zu ratifizieren. Wir werden eine Reihe von Programmen auflegen, die den am meisten vernachlässigten Gemeinden Entwicklung bringen werden.

STANDARD: Was erwarten Sie von Europa, wie könnte die EU einen Reformprozess unterstützen?

Arévalo: Wir rechnen damit, dass uns der Kongress haushaltspolitisch blockiert. Daher müssen wir so schnell wie möglich anderweitig Mittel finden. Wir haben viele Ideen für Kooperation und haben bereits Gespräche mit der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), den Vereinten Nationen und vielen anderen geführt. (Sandra Weiss, 17.8.2023)