Baldur's Gate 3
Nicht alle Spiele gehen in den Early Access. Wie hilfreich das bei komplexen Spielen sein kann, zeigt "Baldur's Gate 3" eindrucksvoll.
Larian Games

Endlich einmal startet ein großes Spiel genau so, wie es sich Spielerinnen und Spieler sehnlichst wünschen. "Baldur's Gate 3" verzückt das Publikum mit solidem Start ohne größere technische Probleme, erfreut durch AAA-Qualitäten wie umfassende und hochqualitative Sprachausgabe und, für viele noch wichtiger: Es verzichtet völlig darauf, sein Publikum nach Erwerb des Spiels zum (noch dazu alten!) Vollpreis von knapp 60 Euro nochmal per In-Game-Shop, DLC-Verlockungen, Lootboxes oder Season Passes wieder und wieder zur Kasse zu bitten. Dass es so etwas noch gibt!

Dagegen, so der allgemeine hämische Konsens, sehen andere große Spiele ganz schön alt, schlecht und raffgierig aus. Dass ein "Diablo 4" zum Vollpreis jede Menge Zusatzkäufe zu teils unverschämten Preisen anbietet, dass Schwergewichte wie die PC-Version von "The Last of Us" beim Start vor Bugs unspielbar sind, dass ein Spiel wie "Redfall" vor lauter Live-Service-Game-Schnickschnack alle alten Stärken vermissen lässt – alles Ausdruck der großen Malaise, die das AAA-Hochglanz-Business seit Jahren fest im Griff hat.

Das Lob für "Baldur's Gate 3" wird damit auch zur Anklage: Wieso kann nicht jedes große Spiel so starten, solche Qualitäten bieten und vor allem: auf die ungeliebte neue Welt der endlosen Zusatzkäufe einfach verzichten? Die kurze Antwort darauf lautet natürlich: Kapitalismus. Ein bisschen komplizierter ist die Sache allerdings doch.

"Production values" über alles

Dass der Großteil der Blockbuster heutzutage mit der einen oder anderen der genannten AAA-Krankheiten zu kämpfen hat, ist nicht ausschließlich das Resultat klischeebehafteter Aktionärsgier. Bereits zu Zeiten der PS3 verhallten die Warnungen vor einer nicht nachhaltigen Games-Entwicklungszukunft ungehört: 3D-Entwicklung, hochauflösende Texturen, immer höhere Standards bei Grafik, aber auch und vor allem Sound, Animation und Sprachausgabe würden ein nie dagewesenes Explodieren der Produktionskosten bedeuten.

Aktuelle Videospiel-Hochglanzproduktionen sind "nicht nachhaltig" und schlicht für die wenigsten Entwickler aufrechtzuerhalten: Mit Wortmeldungen wie diesen haben sich in den letzten Jahren vermehrt Industriegrößen zum Thema zu Wort gemeldet. Ex-Playstation-CEO Shawn Layden, Industrie-Urgestein Amy Hennig und eine Vielzahl anderer Entwickler sprechen schon längere Zeit angesichts von AAA-Spielebudgets in der Höhe hunderter Millionen Dollar von unzumutbaren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Spieleentwicklung.

Diese wirken sich längst auf die Menschen der Branche aus: Toxische Arbeitsbedingungen, Überstundenmarathons im Crunch, die Schließung auch erfolgreicher Studios und vieles mehr machen die Gamesbranche zu einer Industrie mit katastrophalen Arbeitsbedingungen. Der Grund für all den Stress, für vom Burnout zerstörte Körper, Seelen und Familien: Die Spieler, besonders im hochpreisigen Hochglanzsegment, fordern konstant Superlative von ihren Games; vor allem eine immer noch "bessere" Grafik, und natürlich sensationelle Must-haves wie Pferdehoden, die sich realistisch mit der Temperatur heben und senken.

Bitte zahlen!

Ironisch daran: Die Jagd nach immer spektakulärem Hochglanz ist just ein Grund für die ungeliebten, zunehmend aggressive Monetisierungsstrategien, die sich längst vom Mobile-Games-Markt mit seinen Free-to-Play-Tricks bis ins vollpreisigste Vollpreis-Segment fortgesetzt haben. Zur Erinnerung: Die lukrativsten Spiele der Welt sind kostenlos und machen Geld mit der dauerhaften psychischen Manipulation ihres Publikums, doch noch Geld einzuwerfen. Kein Wunder, dass die Chefetagen im Sold der Aktionäre auch und besonders im hochpreisigen Segment der Branche auch nach Gold graben wollen.

Dass sich nicht alle Spielkonzepte gleich gut zusatzmonetisieren lassen und manche Lootbox-Einnahmequelle hart am Rand der Legalität sprudelt, ist dabei eher Nebensache. Die Konzentration auf einzelne, maximal lukrative Blockbuster-Titel macht einige der größten Hochglanzspiele der Welt – "Call of Duty", "FIFA", "GTA", "Assassin's Creed" – zu gewaltigen Franchises, die sich angesichts ebenso gewaltiger Budgets überhaupt keine kreativen Experimente, keine Fehltritte und auch keinen Verzicht auf Zusatzeinnahmequellen leisten können.

Aber zugegeben: Dass nebenbei an die Chefetage seit Jahren Rekordsummen ausgezahlt werden, macht die plakative "Böser Kapitalismus"-Begründung bei aller Differenzierung dann in Teilen doch wieder plausibel.

"Baldur's Gate 3", der Sonderfall

Wenn nun - naiv oder auch mit fragwürdigem Kalkül, etwa von IGN-Journalist Destin Legarie in einem vielbeachteten Video - die Frage gestellt wird, warum nicht alle AAA-Spiele so wie der Rollenspielhit des Sommers sein können, verstellt das den Blick auf den Sonderstatus dieses Spiels – und ist, bei aller berechtigten Kritik am AAA-Mainstream, zu kurz gedacht. Die Frage ist viel eher: Was macht "Baldur's Gate 3" zur Ausnahme?

Schon beim vermeintlich simplen Thema "bugfreier Launch" zeigt sich nämlich, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. "Baldur's Gate 3" ist nicht am 3. August mit bewundernswert wenigen Startproblemen vom Himmel gefallen, sondern hat sich eine dreijährige Early-Access-Phase gegönnt, die maßgeblich zu diesem Kunststück beigetragen hat. Das aus dem Indie-Entwicklungsbereich bekannte Modell hat bei großen AAA-Produktionen bislang wenig Resonanz gefunden - auch wenn böswillige Spötter verpatzte Starts wie jenen etwa von "Cyberpunk 2077" durchaus mal als "inoffiziellen Early-Access-Launch" verhöhnt haben.

Danke, Early Access!

Larian Games, der Entwickler von "Baldur's Gate 3" konnte sich durch die zweieinhalb Millionen Verkäufe während dieser Entwicklungsphase einige Freiheiten und einiges an Luxus leisten - unter anderem hochqualitatives Voice-Acting. Wer seine Produktionskosten beim Launch einigermaßen sicher eingespielt hat, braucht sein Haus nicht zu verpfänden und kann sogar auf Zusatzmonetisierung verzichten - zugegebenermaßen eine sehr sympathische Entscheidung, die sich allerdings auch wirtschaftlich in Form von Käuferbegeisterung rentieren wird. Konstantes Feedback zur Fehlerbehebung sowie bessere Planbarkeit zählen ebenso zu den Vorteilen von Early-Access-Entwicklung. Ironisch, dass unter jenen Spielerinnen und Spielern, die sich seit Jahren über den Verkauf "unfertiger" Spiele beschweren, jetzt wohl auch so einige begeisterte Nutznießer des Modells finden werden.

Ein schwarzer Schwan

Natürlich sind das nicht die einzigen Gründe für Larians Erfolg: Dazu kommen eine D&D-Lizenz, die durch den jüngsten Film an Wert gewonnen hat, und ein ausgezeichneter Ruf bei einer Fanbasis, die man sich durch inzwischen zwanzigjährige Bestellung eines inzwischen eigentlich sehr nischigen Retrogenres erarbeitet hat. Larian kommt nicht aus der Konzernwelt, sondern aus dem Indie-Bereich und ist dort organisch und aus eigener Kraft so groß geworden, dass der Vergleich zum Rest der AAA-Welt erst legitim wurde. Wie ein derartiger Werdegang auch weiter verlaufen kann, ist vielleicht an anderen Beispielen wie jenem von CD Projekt Red abzuschätzen.

Kurzum: "Baldur's Gate 3" ist kein tauglicher Vergleichstitel für die ganze Branche, sondern - leider - ein schwarzer Schwan, ein Ausreißer, der viele Gewissheiten der Industrie auf den Kopf stellt: Dass das große Publikum kein Interesse an vermeintlich anachronistischen Spielmechaniken hätte. Dass Komplexität immer auf simpelstmögliche Controller-Tauglichkeit heruntergeschraubt werden muss. Und dass sich ein großes Spiel nur per klassischen Einmalkauf nicht finanzieren lässt.

Es gibt viele Gründe, sich über den Glücksfall "Baldur's Gate 3" zu freuen. Unter anderem auch jenen, dass die Normalität des Rests der Hochglanzbranche wieder einmal hinterfragt wird; und das am besten ohne Häme. Abgesehen davon gilt wie immer: Wer Mikrotransaktionen nicht leiden kann, kann sich jederzeit nach Spielen wie "Baldur’s Gate 3" umsehen, die auch ohne weiteren Geldeinwurf auskommen. Die existieren in rauer Zahl – wenn man denn seinen Blick vom AAA-Crunch-Hochglanz-Tellerrand erheben mag. (Rainer Sigl, 19.8.2023)