Nastia redet gerne ausschweifend und detailreich. Aber dann gibt es Punkte, da wird sie sehr knapp. Sie lacht auch viel – nicht aber, wenn sie knapp wird mit ihren Worten. Da sitzt sie also in einem Hotel in einem Außenbezirk von Kiew in der Kantine. Ein karger Raum, Tische, Sessel. An der Wand Kisten, Spielsachen, Lernmaterialien, ein Teddybär. Es ist kein Hotel, sondern eine Unterkunft für Kinder und Jugendliche, die eine Odyssee hinter sich haben. Nastia lebt hier. 15 Jahre ist sie alt. Kiew ist nicht ihre Stadt. Ihr Weg aus der Südukraine in die Hauptstadt war lang.

Nastia schaut in die Kamera.
Die 15-jährige Nastia ist wieder in der Ukraine.
Stefan Schocher

Zehntausende Kinder hat Russland im Zuge des Krieges gegen die Ukraine verschleppt. Nastia war eines davon. Von 20.000 bestätigten Fällen sprechen ukrainische Stellen. Russland selbst rühmt sich, 700.000 ukrainische Kinder vor seiner eigenen Invasion nach Russland "gerettet" zu haben – was Russlands Machthaber Wladimir Putin und seiner Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, einen internationalen Haftbefehl beschert hat. Denn: Die Verschleppung von Kindern zum Zweck der Indoktrination oder der Umerziehung erfüllt den Tatbestand des Genozids.

Bewusstes Chaos

Nastia kennt Lwowa-Belowa. Sie hat sie getroffen. Eines Tages war sie in dem abgeriegelten, streng bewachten Heim aufgetaucht, in dem Nastia untergebracht war. Sie bezeichnet es als "Gefängnis". Lwowa-Belowa hatte den Kindern dort aber erklärt, dass ihnen in Russland alle Türen offen stünden. Dass es keinen Sinn habe, der Ukraine nachzutrauern. Und dann die Junarmija, die Jugendorganisation der russischen Armee – die sei auch gekommen. Die wollten alle Kinder und Jugendlichen überzeugen, beizutreten. Sie hat abgelehnt. "Wir wussten, dass die sofort hinter die Front geschickt werden, für Hilfsarbeiten."

Dass Nastia heute wieder zurück in der Ukraine ist, ist ein Glücksfall. Gerade einmal um die 300 entführte Kinder haben es zurück auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geschafft. Denn hinter der Verschleppung steckt ein weitverzweigtes System aus Lagern und Heimen sowie administrativen Maßnahmen, die die Nachverfolgung erschweren. Und ein Netz, das durchaus bewusst chaotisch ist, wie OSZE-Diplomaten sagen. Denn gebe es genaue Namenslisten, schriftliche Befehle, eine Liste an Camps oder gar direkte Befehle aus dem Kreml, wäre die Absicht schwarz auf weiß belegt.

Gefangen nach der Geburtstagsfeier

Es war am 4. November 2022, als Nastia auf dem Heimweg von einer Geburtstagsfeier in eine russische Kontrolle nahe der damals noch von der russischen Armee eingenommenen Stadt Cherson geraten war. Sie hatte kein Telefon dabei und keine Dokumente. Es sollte ja nur ein kurzer Besuch sein. Aber dann saß sie zwei Wochen als Gefangene in einem Keller, wurde verhört. In dieser Zeit wurde Cherson von der Ukraine zurückerobert – und zwischen Nastia und ihrer Mutter lag die Front.

Zunächst sei sie als Kollaborateurin verdächtigt worden, erzählt sie. Schließlich wurde sie aber doch in ein Internat gesteckt: um sechs Uhr aufstehen, Frühstück um sieben, Schule ab acht inklusive patriotischer Erziehung und Indoktrination bis in den Nachmittag. Danach: Hausaufgaben, Abendessen, Zimmer aufräumen, schlafen. Am Montag die russische Fahne hissen, am Freitag die Fahne wieder einholen. Täglich die russische Hymne singen. Und bloß alles befolgen. Ansonsten hieß es im Idealfall: Stiegen rauf und wieder runter waschen. Wer wirklich aufmüpfig war, landete im Keller. So wie ein Bub. Der hatte sich geweigert, die Hymne zu lernen.

Brutale Behandlung

Das ist einer der Momente, an denen Nastia wortkarg und ernst wird, in denen die Stimme versagt. Da vergraben sich ihre Hände im Schoß. Als der Bursche nach einer Woche wieder nach oben kam, sagt sie, habe er überall blaue Flecken und Wunden gehabt. Schweigen.

Straßenszene in Lwiw mit einem Gemälde.
Eine Malerei des Künstlers Christian Guemy erinnert in der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) an die Kinder der Ukraine.
APA/AFP/YURIY DYACHYSHYN

Dabei könnte Henitschesk, wo Nastia untergebracht war, ein beschaulicher Ort sein. Die Stadt liegt zwischen dem ukrainischen Festland und der Krim an der Küste zum Asowschen Meer. 18.000 Einwohner hatte die Stadt einmal, ein Klima, das Reisende bereits im 17. Jahrhundert als "formidabel" bezeichneten.

Für Nastia ist es ein Albtraumort. Nichts als ein Gefängnis sei das Lager gewesen. Auf Gefängnisbetten hätten sie geschlafen, täglich hätte es Drill gegeben. Rausgehen, spazieren, Anrufe – alles verboten. Direkt nebenan war eine Kaserne, in die Obhut der Soldaten wurde auch der Bub aus dem Keller übergeben.

Russische Hymne

Nastias Geschichte ist die tausender Kinder und Jugendlicher aller Altersgruppen, die im Zuge dieses Krieges von russischen Kräften verschleppt worden sind. Viele waren Waisen oder aus anderen Gründen in staatlichen ukrainischen Einrichtungen; viele wurden an Checkpoints geschnappt; sehr viele wurden über angebliche Erholungsaufenthalte mit dem Einverständnis der Eltern nach Russland gelockt; viele wurden aber auch ganz gezielt von zu Hause entführt. Etwa wenn Elternteile in der ukrainischen Armee dienen oder gedient haben. Oder wenn sie schlicht auf einer Liste proukrainischer Politikerinnen oder Beamten standen.

Der gemeinsame Nenner: Alle landeten in Lagern, Internaten oder auch paramilitärischen Ausbildungscamps, erhielten irgendwann neue Dokumente und wurden und werden nach wie vor russisch-patriotisch indoktriniert – auch Nastia. Demnach hatte sie offiziell keine Familie mehr. Auch sie hat die Indoktrinationsmaschine durchgemacht.

Sie grinst und legt den Kopf schief. Wenig Erinnerung habe sie an diese Belehrungen. Sie habe nicht aufgepasst. Nur um eines sei sie nicht herumgekommen: Die ständige Belehrung, dass es die Ukraine nicht mehr gebe, dass Kiew gefallen sei. Deswegen müssten sie die russische Hymne lernen. Das Lied, das ihr heute Brechreiz verursacht.

Plötzlich zurück

Verschleppte Kinder zu finden, sie gar zurückzuholen ist ein Knochenjob. Das ukrainische Rettungsnetzwerk Save Ukraine arbeitet daran. Einmal adoptiert, ist eine Rettung so gut wie unmöglich. Nur ein einziges Kind hat es aus der Adoption in Russland wieder nach Hause geschafft. Und auch das nur durch Zufall, weil sich der Bursche heimlich ein Mobiltelefon besorgt und seine Eltern kontaktiert hatte. Und: Je länger es dauert, umso eher greift die Indoktrination.

Diese Rettungsaktionen gleichen einem juristischen Flashmob: Alle Dokumente werden beschafft, die Einreise der Angehörigen nach Russland wird vorbereitet – dann reisen die Angehörigen an Ort und Stelle mit allen Papieren an.

In Nastias Fall war das der 19. Mai 2023. Da wurden einige Kinder in dem Lager plötzlich in ein Klassenzimmer geschickt. Sie habe sich unter dem Tisch versteckt und vor Angst geweint. Dann aber seien plötzlich die Mütter der Kinder in die Klasse gekommen. Darunter ihre. Nastia wird wieder einsilbig. "Sie haben uns unsere Dokumente zurückgegeben. Sie haben noch einmal versucht, uns davon zu überzeugen, in Russland zu bleiben."

Eine leuchtende Zukunft würden sie alle haben in Russland. Und da habe dieses eine Mädchen seiner Mutter gesagt, dass sie nicht mit ihr zurückgehen werde. Schweigen.

Seit Mai ist Nastia jetzt also in Kiew, wo sie sicher ist und zur Schule gehen kann. Hier in der sicheren Unterkunft leben andere Jugendlichen mit gleichen Geschichten. Ihre Mutter sieht sie regelmäßig, aber sie lebt nach wie vor in Cherson an der Frontlinie, weil sie die Tante pflegt.

Narben heilen langsam

In der Kantine werden Hausübungen gemacht, in einer Ecke gibt es Kunsttherapie. Sozialarbeiter haben die Aufsicht. Psychologinnen kümmern sich um die Narben. Betreut wird alles von Save Ukraine.

Wie sie nach Kiew gekommen sei, das wisse sie nicht mehr, sagt Nastia. Irgendwie erst einmal über die Krim, aber dann habe sie lange geschlafen. Irgendwann hätten sie dann über eine Grenze gehen müssen. Dann seien sie in einen anderen Bus gestiegen. Da habe sie wieder nur geschlafen. Bis Kiew. (Stefan Schocher aus Kiew, 18.8.2023)