Budapest
Ungarns Leichtathletikzentrum von Viktor Orbáns Gnaden.
EPA/ANNA SZILAGYI

"Man bringe den Spritzwein!" Ja, eh. Doch von Michael Häupl, dem Wiener Ex-Bürgermeister, sind noch ganz andere Bonmots überliefert. "Ein neues Leichtathletikzentrum für Wien" ist zum Beispiel ein Sager, über den sich die österreichische Sportszene seit mehr als zehn Jahren abhaut. Anfang 2013 hatten sich knapp 72 Prozent der Wienerinnen und Wiener in einer Volksbefragung gegen eine Bewerbung der Stadt um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2028 ausgesprochen. Häupl wäre dafür gewesen, aber so, dass er seinen Kummer über das Ergebnis ertränken hätte müssen, war es dann auch wieder nicht.

Den Sport tröstete er jedenfalls vollmundig mit der Ankündigung gleich zweier neuer Zentren, das eine fürs Schwimmen, das andere, wie erwähnt, für die Leichtathletik. Als Schwimmzentrum sollte sich das Stadionbad entpuppen, das nun nicht mehr über bloß ein, sondern über zwei 50 Meter lange Sportbecken verfügt. Das Leichtathletikzentrum ist der größere, der bessere Witz. Es ist in Wahrheit längst da gewesen, nämlich dem Fußballstadion vis-à-vis in der Meiereistraße zwischen Hauptallee und Vorgartenstraße. Der gute alte Cricketplatz! Er hatte vor Jahrzehnten schöne Zeiten und am 11. Juni 1978 seine Glanzstunde erlebt, als der Kenianer Henry Rono in 27:22,5 Minuten einen Weltrekord über 10.000 Meter fixierte.

Stadion Wien
Das Wiener Leichtathletikzentrum von Michael Häupls Gnaden.
Fritz Neumann

Der Henry Rono von 2013 war, nun ja, Michael Häupl. Auch jetzt ging es im Prater ruckizucki, die Anlage wurde um 800.000 Euro renoviert und schon im November als "neues Wiener Leichtathletikzentrum" eröffnet. Natürlich war die Laufbahn saniert worden, blöd halt nur, dass nach wie vor nur sechs Bahnen rundherum gehen, das sind zwei zu wenig für größere Wettkämpfe. Zuletzt wurde nur der Belag der innersten der sechs Bahnen saniert, jetzt sind die Bahnen ungleich noch dazu. Und so ist Wien – Häupl hin, Zentrum her – immer noch das einzige österreichische Bundesland, in dem keine Leichtathletikmeisterschaften stattfinden können, von internationalen Events ganz zu schweigen. Einheitlicher Sport-Tenor: Das ist beschämend für eine Zweimillionenstadt.

Was Orbán lockermacht

Cut. Budapest. Dort haben am Samstag die 19. Leichtathletik-Weltmeisterschaften begonnen. Bis auf die Straßenbewerbe finden alle Events im neu errichteten Nemzeti Atlétikai Központ statt, Nationales Leichtathletikzentrum heißt das übersetzt. Das eigens errichtete Stadion am Ostufer der Donau bietet 37.326 Plätze, nach der WM wird es auf 14.531 Plätze rückgebaut. Betreiber ist der ungarische Leichtathletikverband, Eigentümer ist der ungarische Staat. Anders wäre auch die Errichtung kaum möglich gewesen, schließlich sind die Kosten explodiert. Von ungefähr 300 Millionen Euro war man ausgegangen, das sollte aber nicht nur das Stadion, sondern auch viele Freizeit- und Jugendsportanlagen im Umfeld inkludieren. Doch am Ende hat Viktor Orbán offiziell 663 Millionen Euro lockergemacht. Die Ungarn sind solche Ausgaben gewöhnt, viele schütteln darüber nur noch resigniert den Kopf, noch mehr wählen Orbán trotzdem.

Das polierte Image

Brot und Spiele. Mit dem Sport poliert Orbán sein Image, national wie international. Seit 2010 sollen mehr als zwei Milliarden Euro in den Sport geflossen sein, das neue Fußballnationalstadion, die Puskás-Arena, kostete allein gut 600 Millionen. Elf der zwölf Fußball-Erstligavereine verfügen über ein neues oder zumindest neu renoviertes Stadion. Kritiker monieren, dass mit dem Fußball Geld gewaschen werde, dass es nicht selten Orbán-Verbündete und Fidesz-Parteigänger sind, die von den Aufträgen profitieren, und dass das Geld anderswo viel dringender benötigt wird, etwa im Gesundheitswesen oder im Bildungsbereich.

Doch das alles ficht Orbán nicht an. Er holt ein Sportgroßevent nach dem anderen nach Ungarn. Der europäische Fußballverband Uefa ist Ungarn besonders verbunden, das während der Pandemie mehrere wichtige Spiele übernahm. Anderswo wären sie wegen der Reisebeschränkungen abgesagt worden.

Bäume in Klagenfurt

2022 fanden u. a. die Schwimm-WM und die Handball-EM der Männer in Budapest statt. Natürlich war Budapest eine der elf Städte, in denen die Fußball-EM 2021 gespielt wurde. In Wien wurde sogar, als sich Österreich mit der Schweiz die Fußball-EM 2008 teilte, die Errichtung eines neuen großen Stadions im Prater versäumt. Dafür wurde in Klagenfurt ein Stadion gebaut, in dem 2008 drei EM-Spiele und 2019 eine Kunstaktion mit 299 Bäumen stattgefunden haben.

Vor dem Jahrtausendwechsel hatte Wien gar keinen schlechten Namen als Sportveranstalter, man erinnere sich an die Ruder-WM 1991, die Schwimm-EM 1995 oder die Eishockey-WM 1996. Seither hat sich Wien eher rargemacht oder gar blamiert wie 2005, als bei der Eishockey-WM das Eis in der Stadthalle schmolz. Daran wurde am 6. Juni 2022 erinnert, als sich gegen Ende eines Fußball-Länderspiels im Spielfeld ein knietiefes Loch auftat.

"Der größte Unterschied zwischen Österreich und Ungarn", sagt Diskuswerfer Lukas Weißhaidinger, der sich in Budapest am Samstag fürs Finale am Montag qualifizieren und auf eine Medaille losgehen will, "ist der gesellschaftliche Stellenwert, den der Spitzensport hat." Weißhaidinger findet vor den Toren Wiens, in der Südstadt, beste Trainingsbedingungen vor. Er wünscht sich "einfach nur mehr Begeisterung für den Sommersport", insbesondere seitens der Politik.

Doch Wien ist anders. Hier stellt der regierende Männer-Handballmeister (West Wien), der in der Stadt jahrelang keine Heimhalle hatte und in die Südstadt auswich, den spitzensportlichen Betrieb ein. Hier muss sich der Radsport mit dem Abriss des Dusika-Stadions abfinden. In der Sportarena Wien, die ebendort errichtet wird, geht sich neben Ballsportarten, Leichtathletik und Turnen keine Radbahn aus. In Wien gibt es zwar die Donauinsel – ja, da fand heuer eine Beachvolleyball-EM statt –, den Prater und den Wienerwald, wo Bewegungshungrige auf ihre Rechnung kommen. Aber es gibt auch viel Unzufriedenheit im Spitzensport.

"Niemand will ungarische Verhältnisse", das hört man in Sportkreisen oft. Aber ebenso oft kommt der Slogan "Sportstadt Wien" leicht mutiert daher: "Wien statt Sport". (Fritz Neumann, 19.8.2023)