Philosophin Rebekka Reinhard
Auch wenn es pathetisch klingt – die Philosophin Rebekka Reinhard plädiert für das Gutsein. Das sei der beste Weg, trotzdem zufrieden und resilient zu werden.
Sung-Hee Seewald

Die Krise scheint allgegenwärtig zu sein. Pandemie, Krieg, das Erstarken rechter Parteien, Klimakrise dominieren die Nachrichten. Polykrisen nennt die Philosophin Rebekka Reinhard das, sie verunsichern uns, bedrohen unsere privaten Überzeugungen, und es wird zunehmend schwieriger, innerer Ruhe und persönliches Glück zu bewahren. Das zeigt sich auch daran, dass seit der Pandemie psychische Probleme wie Ängste oder Depressionen massiv zugenommen haben.

Doch es gibt einen Lichtblick in dieser Situation, ist Reinhard überzeugt. Jede und jeder trägt das Potenzial in sich, tief und "störungsfrei" glücklich zu sein, resilient gegenüber den großen und kleinen Erschütterungen von außen: gut sein. Und zwar zu sich selbst und zu anderen. Im Kleinen, aber dafür ein Leben lang, indem man immer wieder die Gelegenheit dazu ergreift, etwas Gutes zu tun. Das klingt einerseits fast schon naiv, andererseits voller Pathos. Doch die Philosophin ist überzeugt, so kann man ein langsames, sicheres Glück erschaffen, das aus dem Inneren kommt und unabhängig ist von Besitz oder politischen Entwicklungen.

Einen Leitfaden, wie das gelingen kann, bietet ihr neues Buch "Die Kunst, gut zu sein", das soeben im Ludwig-Verlag erschienen ist. Im Interview erklärt sie, warum man nicht sagen kann, ob jemand ein guter Mensch ist, weshalb das wenig mit Aktivismus zu tun hat und was Gutsein gegen die von Hannah Arendt geprägte Banalität des Bösen ausrichten kann.

STANDARD: Frau Reinhard, sind Sie ein guter Mensch?

Reinhard: Ich denke, das ist die falsche Frage. Wenn es ums Gutsein geht, ist das Subjekt die einzige Sprecher-, Denker- und Fühlposition. Ich selbst bin die relevante Größe. Die richtige Frage müsste deshalb lauten: "Wie kann ich jetzt gerade gut sein?" Oder, noch präziser: "Was kann ich jetzt Gutes tun?" Darauf kommt es an. Und nicht, ob Sie oder ich selbst mich als guten Menschen empfinde.

STANDARD: Das heißt, ob man gut ist oder gut handelt, ist immer eine Momentaufnahme?

Reinhard: Ja, ich glaube, das muss man tatsächlich situativ entscheiden, in konkreten Kontexten und Situationen. Möglicherweise kann man dann zu einem späteren Zeitpunkt oder am Lebensende sagen, ob eine Person ein guter Mensch war, ob sich die situativen guten Taten, die vielen Momente, in denen man die Gelegenheit ergreifen und gut sein kann und in denen man ins Handeln gekommen ist, addiert haben zu einer guten Existenz.

Für mich ist das tatsächlich etwas eminent Praktisches. Ich stehe damit durchaus im Gegensatz zur klassischen Philosophie, speziell zur akademischen Moralphilosophie. Ich sage, wir brauchen keine großen Theorien, um das Gute in der Welt zu vermehren. Vielmehr sollte man sich in der Praxis eine bestimmte Haltung aneignen, wie man Gutes in die Welt tragen kann, und das beschreibe ich in meinem Buch.

Der Hintergrund dazu ist meine eigene Lernerfahrung als freie Philosophin. Ich habe mir gedacht, jetzt bin ich 50, jetzt darf ich auch einmal zurückblicken, was ich gelernt habe aus Sicht der Wissenschaft, von der akademischen Philosophie, aber auch aus meinen eigenen Erfahrungen. Gerade in unserer Zeit der Unsicherheit, die ich auch selbst erlebe, bin ich mehr und mehr der Meinung, dass man sich diesem Thema experimentell annähern muss.

STANDARD: Aber lässt sich Gutsein in irgendeiner Form definieren?

Reinhard: Es bedeutet, dass ich nicht einfach nur die Absicht habe, etwas Gutes zu tun, sondern dass ich es auch wirklich umsetze. Das beginnt schon im ganz kleinen Rahmen und ist oft sehr banal. Die Banalität des Guten, so nenne ich das, kann sein, dass ich beim Einkaufen eine Person anlächle, einfach weil ich das Gefühl habe, das ist jetzt das Richtige. Oder ich stelle eine Blume auf den Tisch, weil jemand anderer sich darüber freut.

STANDARD: Dem Gutsein haftet ja durchaus auch etwas sehr Naives an. Warum nehmen wir das so wahr?

Reinhard: Es klingt tatsächlich etwas pathetisch. Man sagt als moderner Mensch nicht so leicht: "Das ist ein guter Mensch." Man sagt, er oder sie ist nett, sympathisch oder etwas in der Art. Wir meinen im Grunde das Gleiche, aber in unserem Sprachgebrauch ist der Begriff stark religiös konnotiert und überhöht. Der Ausdruck erscheint uns deshalb viel zu absolut. Das hat womöglich auch mit der neuesten deutschen Geschichte zu tun, der Desillusionierung durch das radikal Böse im 20. Jahrhundert. Wir sind regelrecht entzaubert und trauen uns gar nicht mehr, das Wort "gut" zu sagen. Vielleicht ist es sogar mutig, ein Buch zu schreiben über die Kunst, gut zu sein, das nicht ideologisch sein will und auch keine spirituelle Erbauungsliteratur ist. Es ist tatsächlich eine ganz pragmatische Lebenshilfe, die aus dem Bauch heraus und aus der eigenen Erfahrung entstanden ist.

STANDARD: Aber was bringt es mir eigentlich, wenn ich ein gutes Leben führe?

Reinhard: Auch das ist so eine typische Frage, die wir modernen Menschen stellen. Wir wollen immer erst einmal eine Kosten-Nutzen-Kalkulation machen, bevor wir uns zu sehr anstrengen. Das Leben ist ohnehin schon anstrengend genug. Aber aus ethischer Sicht ist auch die Frage, was es uns bringt, die falsche. Der Nutzen lässt sich nicht so klar messen, er ist eher subtil. Aber tatsächlich merke ich, dass ich zufriedener werde, ruhiger, vielleicht sogar resilienter, seit ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, freundlich zu sein, Menschen zu helfen, schwere Taschen zu tragen, wenn nötig. Und wenn ich auch zu mir selbst gut bin. Da kann sich eine richtige Lebenshaltung daraus entwickeln.

Dieser tiefe Zusammenhang zwischen Zufriedenheit auf der einen Seite und Ethik oder Moral auf der anderen Seite ist eine uralte Menschheitserkenntnis. Die Stoiker und Platon haben das in unserem Kulturkreis schon festgestellt, die gleiche Erkenntnis ist auch im fernöstlichen Raum entstanden. Wenn die Buddhisten sagen, es geht ums Sein, nicht um das Haben, dann ist immer gemeint, glücklich und gut zu sein, nicht irgendetwas zu akkumulieren, was man in diesem vergänglichen Leben ohnehin nicht halten kann.

STANDARD: Das Gutsein soll auch helfen, besser durch die aktuell zahlreichen Krisen navigieren zu können. Aber wäre dann nicht eher Aktivismus gefragt, um etwas zu verändern?

Reinhard: Ich glaube, man sollte das Gutsein nicht verallgemeinern. Wenn jemand sich beispielsweise im Klimaaktivismus engagiert und so etwas zu bewegen versucht, dann ist das großartig. Aber wenn Gutsein so aussehen muss, bekommt es sofort wieder etwas Absolutes, das dann viele Menschen überfordert. Und es rückt in eine gefährliche Nähe zur Ideologie. Genau das möchte ich vermeiden.

Ich glaube, es geht vielmehr darum, sich erst einmal auf das Kleine zu beschränken und zu üben, ohne großes Programm. Gerade im Social-Media-Zeitalter besteht die Gefahr, das Label oder das gute Image zu verwechseln mit der tatsächlichen, authentischen Absicht und den guten Folgen, die so ein Aktivismus im Idealfall hat. Man weiß ja nie, was wirklich dabei herauskommt, man kann nur hoffen, dass gut sein zu wollen auch tatsächlich Gutes zeitigt.

Im Englischen gibt es den Begriff "Virtue Signalling", das heißt in etwa so viel wie Tugendprahlerei. Es kann natürlich Gutes bewirken, wenn ich mich auf Social Media engagiere mit einem Anliegen. Aber ich muss immer ganz genau hinschauen, und vor allem muss ich immer bei mir selbst anfangen. Was kann ich jetzt Gutes tun? Dafür brauche ich kein Programm und keine Partei, das kann ich ganz alleine machen.

Buchcover
Rebekka Reinhards Buch "Die Kunst, gut zu sein" ist im Ludwig-Verlag erschienen. Es soll einen inneren Kompass bieten für ein Leben, das auch in Krisenzeiten glücklich macht.
Ludwig Verlag

STANDARD: Tatsächlich schafft man es aber nicht, immer gut zu sein. Was steht einem da im Weg?

Reinhard: Das stimmt. Ich glaube, dass es ein Beispiel des Menschlichen ist, dass man das nicht immer schafft. Ich kenne es aus eigener Erfahrung: Wie oft habe ich mir in den vergangenen Monaten gedacht, mit zwei großen beruflichen Projekten, während ich mich auch noch um meine Eltern kümmere, es ist mir alles zu viel, ich würde mich am liebsten einrollen wie eine Raupe und Thriller lesen. Wieso soll ich überhaupt noch lächeln, wenn ich nicht mehr kann? Aber genau das ist auch eine ganz wichtige Botschaft: Es ist kein Drama, wenn ich einmal ein halbes Jahr nichts in der Richtung mache, ich bin deshalb nicht gleich ein schlechter Mensch, weil ich in einer fordernden Phase mehr an mich selbst denke.

Es geht nicht um irgendeinen Optimierungswahn oder Perfektionismus, das wäre wirklich eine fatale Verwechslung. Gut sein ist kein Wettbewerb, in dem man jeden Tag benotet wird und am Ende des Jahres womöglich durchfällt. Es geht vielmehr um den Versuch, um das immer wieder Aufstehen und darum, sich immer wieder selbst zu fragen, wofür lebe ich eigentlich? Wir wissen nicht, woher wir kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir haben nur eine relativ kurze Zeit hier. Diese Ungewissheit ist Teil der Conditio humana. Da finde ich diesen experimentellen Zugang zum Leben, wie kann ich irgendetwas gestalten und die Welt vielleicht ein bisschen weiser und besser verlassen, als ich sie betreten habe, sehr spannend. Das klingt vielleicht idealistisch, aber ich sehe es wirklich als einzig möglichen Pragmatismus.

STANDARD: Und wie erkenne ich die Auswirkungen meiner Taten?

Reinhard: Die Wirkung passiert permanent und vor allem im Kleinen. Diese Haltung ist gerade jetzt extrem wichtig. Wir erleben ja schon seit einiger Zeit ein Erstarken reaktionärer Kräfte, vor allem auf der politischen Ebene. Und genau hier ist das Gutsein so wichtig.

Hannah Arendt hat von der Banalität des Bösen gesprochen. Das Böse beginnt ja nicht mit irgendwelchen spektakulären, monströsen Taten oder Mordserien. Das Böse beginnt im ganz Kleinen, in der Gleichgültigkeit, im Wegschauen, im Feigesein, im Ignorieren.

Dem gegenüber stelle ich die Banalität des Guten, und das ist tatsächlich meine einzige These in diesem Buch. Das Gute kann auf einem ganz kleinen Level im alltäglichen Radius der Banalität des Bösen entgegenwirken. Einfach indem man keine überhöhten Ansprüche hat und eben Nein sagt zu sich selbst, wenn man lieber wegschauen würde, weil es gerade bequemer ist. Das kann in dieser Zeitenwende, an der wir uns gerade befinden, in Bezug auf die Demokratie etwa oder die Umwelt, den entscheidenden Unterschied machen.

STANDARD: Gibt es denn eine Art Leitfaden, wie man gut ist im Leben?

Reinhard: Es ist, wie gesagt, recht simpel. Man fragt sich einfach immer, was kann ich jetzt Gutes tun? Zum Beispiel einen Menschen mit einem schreienden Kind an der Kasse vorlassen. Einer Person, die womöglich etwas nervig ist, zuhören, einfach weil ich das Gefühl habe, das braucht die jetzt. Und natürlich auch zu sich selbst gut sein, sich selbst mehr Zeit geben.

Beim Gutsein geht es auch sehr viel um das Gestalten, finde ich, es gibt einen Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik. Das kann sein, dass ich eine Blume auf den Tisch stelle oder einen Raum schön gestalte, für meinen Partner, für mich selbst, damit man sich darin wohlfühlt.

Und eine gewisse Einkehr ist wichtig, Innenschau halten in diesen bewegten Zeiten. Man fragt sich dann selbst, was bewegt mich, was denke ich eigentlich? Man kann auch den Partner oder die Partnerin am Abend einmal fragen: "Was hast du heute gedacht?", statt des ewigen "Was hast du heute gemacht?". Dieser Zusammenhang zwischen Hirn und Herz, zwischen Gefühlen und Gedanken, den auch die Stoiker schon erkannt haben, der ist heute wichtiger denn je. (Pia Kruckenhauser, 16.9.2023)