Ein Mann macht einer Frau sichtlich Vorwürfe.
Sobald es ein systematisches Verhalten gibt, wodurch sich der Partner oder die Partnerin schlecht fühlen soll, sollte man genauer hinschauen.
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Psychische Gewalt ist für Betroffene mitunter schwer fassbar. Nicht zuletzt, weil sie sich oft über längere Zeit einschleicht, erklärt die Psychiaterin Christa Rados, Leiterin des Psychosozialen Therapiezentrums Kärnten. Einige zentrale Merkmale gibt es aber, die Freund:innen oder auch Betroffene selbst aufmerksam machen können – zum Beispiel systematische andauernde Abwertung oder Liebesentzug.

STANDARD: Seit wann gibt es eine intensivere Beschäftigung mit psychischer Gewalt?

Rados: In der Psychiatrie musste man sich schon immer mit psychischer Gewalt auseinandersetzen. Die Macht von Kränkungen steht im Zentrum unserer Arbeit, sie spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung vieler psychischer Erkrankungen. Auch wenn man psychotherapeutische Arbeit leistet oder sich im Rahmen der Behandlung mit der Biografie von Patient:innen auseinandersetzt, geht es um Kränkungserlebnisse, die nicht verarbeitet wurden.

STANDARD: Was ist psychische Gewalt genau?

Rados: Wie jedes Kommunikationsthema muss man auch psychische Gewalt von zwei Seiten betrachten – und das macht eine Definition schwierig. Es geht einerseits um die Massivität der Gewalt der Täter:innen, andererseits geht es aber auch um die Empfindsamkeit des Opfers. Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Persönlichkeit oder ihrer Vorerfahrungen sehr empfindsam sind und zusammenzucken, wenn sie angeschrien werden. Andere schreien einfach zurück – und es ist erledigt. Was als psychische Gewalt erlebt wird, ist also sehr individuell und hängt von der Vulnerabilität eines Menschen ab.

STANDARD: Es gibt also keine Definition von psychischer Gewalt?

Rados: Doch, aber meiner Meinung lässt sie außer Acht, dass individuell unterschiedliche Wahrnehmung eine Rolle spielt. Gewalt ist nicht gleich Gewalt, egal ob psychisch oder körperlich. Für die Folgen für die Opfer macht es einen großen Unterschied, ob es eine einmalige Eskalation ist, zum Beispiel im Rahmen eines Streits, oder ob es ein systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten ist.

Eine einmalige Entgleisung ist zwar auch nicht in Ordnung, aber man muss abstufen. Die erste Stufe wäre, wenn ein Paar etwa sagt: Da haben wir uns angeschrien, und mein Partner hat mir Dinge vorgeworfen, die wirklich schwer unter der Gürtellinie waren – aber üblicherweise gehen wir so nicht miteinander um. Die nächste Stufe wäre, dass es jedes Mal heftig zugeht, wenn man streitet. Doch die schädlichste Form der psychischen Gewalt ist, wenn es sich um systematisches Verhalten eines Partners oder auch in der Arbeitswelt handelt. Ein Verhalten, das es darauf anlegt, einen anderen zu verunsichern und zu schwächen, jemanden klein zu halten – um jemanden letzten Endes zu kontrollieren. Diese Abstufungen gibt es sowohl bei der physischen als auch bei der psychischen Gewalt.

STANDARD: Wo fängt psychische Gewalt an?

Rados: Ein Beispiel ist Isolation – wenn jemand ein gewohntes soziales Umfeld der Partnerin oder des Partners ablehnt, wenn beispielsweise verlangt wird, eine bestimmte Freundin nicht mehr zu treffen. Andere Beispiele sind Bloßstellen, Diffamieren, Nötigen oder Ängstigen. Das kann so weit gehen, dass angedroht wird, dass man nahestehende Personen verletzt. Sogar Haustiere können diesbezüglich instrumentalisiert werden, es wird gesagt, man tue dem Hund oder der Katze etwas an – das kann einem schon unter die Haut gehen.

Oder Liebesentzug, Schweigen und Rückzug – ohne dass der andere weiß, warum. Bei Belästigungen, Mobbing, Stalking oder gefährlicher Drohung, da sind wir dann schon im strafrechtlichen Bereich.

STANDARD: Wenn Eskalationen häufig vorkommen – wie kann man früh erkennen, dass es eine Systematik gibt? Wahrscheinlich gibt es eine Gewöhnung.

Rados: Ja, leider gibt es die bei jeder Form von Gewalt. Sonst wäre es nicht erklärbar, dass Menschen das über einen längeren Zeitraum mit sich machen lassen. Gerade bei der psychischen Gewalt ist das perfide, weil es oft zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Der Partner gibt einem systematisch das Gefühl, schuldig zu sein, unterlegen zu sein, dass man ihn wieder mal so weit getrieben habe, dieses oder jenes zu tun. Durch Einschleichen dieser Dynamiken ist es für die Opfer oft schwer zu durchschauen, was mit ihnen passiert.

STANDARD: Was kann helfen, um das zu erkennen?

Rados: Bei jeder Form von Gewalt ist einer der wichtigsten Schutzfaktoren ein gutes soziales Netz. Wenn Nahestehenden, Angehörigen oder Freunden auffällt, dass jemand immer wieder von Abwertungen oder beispielsweise extremer Eifersucht erzählt, können sie raten, dass man da genauer hinschauen sollte. Darüber zu sprechen ist eine wichtige Ressource – und die Meinungen anderer. Sollte tatsächlich keinerlei Leidensdruck bestehen, kann es sich in Einzelfällen auch um einen eher rüden Kommunikationsstil handeln, der offensichtlich mit den Werten der Beteiligten im Einklang steht.

Aggression ist nicht per se etwas Schlechtes. Sie ist vielmehr biologisch angelegt und kann Ansporn auch für erwünschtes proaktives Verhalten sein, beispielsweise in Form von Ehrgeiz oder Durchsetzungsvermögen. Abzulehnen ist lediglich, wenn Aggression in einer Form ausgelebt wird, die danach strebt, anderen Schaden zuzufügen. Dann spricht man von Gewalt.

Psychiaterin Christa Rados. 
Psychiaterin Christa Rados befasst sich seit vielen Jahren mit psychischer Gewalt. Mit anderen darüber zu reden sei eine wesentliche Ressource, sagt sie.
KABEG/Helge Bauer

Neurobiologisch betrachtet gibt es zwei unterschiedliche Hirnkreisläufe, die bei spezifischen Gewaltformen aktiviert werden. Das eine ist die defensive Gewalt, das ist auch bei den Tieren so: Wenn eine Katze angegriffen wird, faucht und kratzt sie. Das andere ist die proaktive Gewalt, die Predator-Gewalt, bei der man Gewalt ausübt und auf jemanden losgeht, ohne angegriffen worden zu sein. Die Motive, bei denen Gewaltprävention ansetzen muss, sind also auch auf biologischer Ebene unterschiedlich. Es ist aus therapeutischer und gewaltpräventiver Sicht sinnvoll zu fragen, ob der Täter selbst unter Druck steht. Es geht dabei keineswegs um eine Täter-Opfer-Umkehr, sondern um ein besseres Verständnis von Mechanismen der Gewaltentstehung. Allerdings sind diese bei vielen Formen der psychischen Gewalt so subtil, dass die Systematik manchmal schwer durchschaubar ist.

STANDARD: Weiß man genauer, wie groß das Problem psychischer Gewalt ist?

Rados: Wir haben wenige Zahlen dazu. Aber eine Umfrage zeigte, dass neun von zehn Frauen und acht von zehn Männern bereits Opfer von psychischer Gewalt wurden. Wir reden also von einem enorm verbreiteten Phänomen. Für mich war überraschend, dass der in der Umfrage angegebene häufigste Kontext das Erwerbsleben und die Ausbildung waren. In diesen Bereichen wurde am häufigsten über psychische Gewalterfahrungen berichtet. Wir müssen uns deshalb fragen: Gibt es für den privaten Bereich blinde Flecken? Oder ist der private Bereich einer, in dem wir uns mehr erlauben, was ja bis zu einem gewissen Grad auch in Ordnung wäre? Ist unsere Arbeitswelt so brutal?

Vielleicht werden unterschiedliche Maßstäbe an den privaten und den beruflichen Bereich angelegt: Wenn ein Kollege immer sehr schlecht über mich redet, fällt mir das auf – aber wenn das daheim jemand macht, vielleicht eher weniger.

STANDARD: Bei physischer Gewalt sind die Täter vorwiegend Männer. Wie sieht das Geschlechterverhältnis bei psychischer Gewalt aus?

Rados: Das wissen wir nicht. Es ist zwar immer wieder zu lesen, dass mehr Frauen psychische Gewalt ausüben, aber das ist nicht bewiesen. Es wird oft so getan, als gebe es entweder psychische oder physische Gewalt. Wenn Männer deutlich mehr physische Gewalt ausüben, könnte das auch bedeuten, dass damit auch oft psychische Gewalt einhergeht – angesichts der Wucht körperlicher Gewalt geht die psychische Gewalt oft unter. (Beate Hausbichler, 23.8.2023)

Christa Rados ist seit Juni Leiterin des Psychosozialen Therapiezentrums Kärnten. Davor war sie Vorständin der Abteilung für Psychiatrie und therapeutische Medizin am Landeskrankenhaus Villach, wo sie auch eine Opferschutzgruppe initiiert und geleitet hat (https://toolbox-opferschutz.at/Opferschutzgruppen).