
War es wegen der großen Emotion? Völlig normal, wie es auch beim Männerfußball im Siegestaumel oft zu sehen ist? Oder doch der Ausdruck der sexistischen Haltung, Frauen könne man anfassen und abknutschen, wie es einem passt?
Wer die am Sonntag zu Ende gegangene Fußballweltmeisterschaft der Frauen nicht verfolgt hat, der oder dem wird diese WM wohl aber mit diesem Ereignis in Erinnerung bleiben: Der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales küsste erst die Wange von Jennifer Hermoso, die erst seit wenigen Minuten Weltmeisterin war. Und dann gleich noch einmal auf den Mund, mit beiden Händen umfasste der 45-Jährige das Gesicht der Stürmerin. Unmittelbar danach sagte die 33-jährige Spielerin, es hätte ihr nicht gefallen – und fragt am Tag des Finales: Was hätte ich tun sollen?
Einen Tag später klang eine Erklärung der Weltmeisterin versöhnlicher, verbreitet wurde sie vom spanischen Fußballverband RFEF. Es sei eine "natürliche Geste der Zuneigung" gewesen, wird Hermoso zitiert. Und mit dem Präsidenten habe sie ein gutes Verhältnis.
Doppelte Gemeinheit
Der erste Gedanke von Nikola Staritz war: "Das ist eine doppelte Gemeinheit." Für die Fußballtrainerin des Mädchenteams ASK Erlaa Torpedo 03 und Mitarbeiterin bei Fairplay überschattete das einerseits den Sieg der Spanierinnen. "Anstatt abzufeiern und über Fußball von Frauen zu reden, sprechen jetzt alle über diese Kussgeschichte", sagt Staritz zum STANDARD. Das andere sei, dass der Spot auf die Spielerin gerichtet ist: "Wie verhält sie sich, warum nimmt sie das wieder zurück? Der Rechtfertigungsdruck liegt wieder bei einer Frau", kritisiert die Expertin für Antidiskriminierung im Sport.
"In einem ersten Reflex verstehe ich, dass sie darüber nicht mehr reden wollte – das hätte sie auch verdient", doch andererseits müsse man darüber reden. Über Macht- und Geschlechterverhältnisse im Sport, über diese Selbstverständlichkeit von Übergriffen, sagt Staritz.
Die spanische Gleichstellungsministerin bezeichnete den Vorfall auf Twitter als eine Form von sexualisierter Gewalt, und sagte, dass man nicht davon ausgehen dürfe, "dass Küssen ohne Zustimmung etwas ist, das 'passiert'".
Weniger offensichtlicher Sexismus
Doch auch im Männerfußball wird es für die Akteure oft ungewöhnlich körperlich. Es wird minutenlang umarmt, hochgehoben, abgebusselt. Warum soll es also in dem aktuellen Siegestaumel des spanischen Frauenteams anders sein? "Das kann man nicht einfach umdrehen", sagt Staritz. Zwischen Männern würden die hierarchischen Geschlechterverhältnisse wegfallen, "solche Gesten sind bei Frauen tausendmal schlimmer, es ist auch nicht mit Emotion und Freude zu rechtfertigen – dass Verbandspräsident einen Mann so küsst, das ist einfach nicht denkbar", ist Staritz überzeugt.
Etwas anderes sei es auch, wenn so etwas auf dem Spielfeld passiert, wo es keine Hierarchien gibt wie die zwischen einem Verbandspräsidenten und Spieler:innen. "Wenn das Spieler:innen untereinander machen, dann ist das nochmal ein ganz anderes Thema."

Sexismus und Übergriffe habe allerdings nicht der spanische Verbandspräsident erfunden, das passiere jeden Tag, sagt Staritz. Wenn auch weniger offensichtlich. Bei Sportarten mit einem "männlichen Charakter" werden Frauen noch immer Fähigkeiten in diesem Sport abgesprochen. Und das fange früh an: "Burschen werden viel mehr ermutigt, in einen Sportverein zu gehen, während Mädchen am Kinderspielplatz gesagt wird, sie sollen aufpassen, anstatt sie zu ermuntern, die Grenzen ihres Körpers auszutesten und zu schauen, was der alles kann."
Bitte keine Muskeln
Bis heute goutieren es manche Eltern nicht, dass ihre Töchter Fußball spielen. Staritz: "Sie wollen nicht, dass sie zu viele Muskeln bekommen oder vielleicht lesbisch werden – diese Vorbehalte sind zwar weniger geworden, aber es kommt noch immer vor."
Auch auf infrastruktureller Ebene zeigt sich die Abwertung von Frauen- oder Mädchenfußball. Burschen haben oft mehr Plätze zur Verfügung, und auch mit Sponsor:innen oder Finanzierung für Mädchenfußball schaut es schlechter aus. Auch bekommen bei Spielen die Mädchenteams oft die Uhrzeiten, die halt übrigbleiben. "Das ist eine Frechheit und zeigt den Stellenwert, den man Mädchenteams gibt."
Trotz der jetzigen Verschiebung der Debatte weg vom Fußball und hin zu dem "Kussvorfall" sieht Nikola Staritz die Entwicklung positiv, zumindest im Spitzensport. "Die Quoten beim WM-Finale waren wahnsinnig gut, es wurden alle Spiele übertragen, sogar auf ORF 1 – da war ich schon stolz."
Ganz wenig passiere hingegen im Breitensportbereich. In Österreich spielen sehr wenige Mädchen Fußball. Ein Sieg der präferierten Spielerinnen könnte helfen, dass es mehr werden. Die Aktion von Verbandspräsident Luis Rubiales wohl weniger. (Beate Hausbichler, 22.8.2023)