Wie die Wahrheit finden?

Jo Angerer über die Arbeit als Korrespondent in Moskau

Hat man es als STANDARD-Korrespondent in Moskau mit Fake News zu tun? Aber ja. Weniger von Regierungs- und der Kreml-Seite. Von dort kommen Aussagen, natürlich aus russischer Sicht und gemäß dem russischen Narrativ. Und oft genug kommt: Schweigen. Aber als Quellen gibt es auch noch hunderte Telegram-Kanäle und Auftritte in anderen sozialen Medien. Politiker, Militärblogger, Kommentatoren äußern sich. Manche auch mit undurchsichtigen Interessen. Und manche verbreiten Falschnachrichten.

Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Dieser alte Satz hat noch Gültigkeit. Für alle Seiten. Aber wie dann die Wahrheit finden? Faktencheck ist bitter notwendig. Und der beginnt schon bei der Recherche. Man muss die Quellen vergleichen, nach Wichtigkeit einschätzen. Wer zitiert wen? Wie logisch ist was? Was sind, in Sachen Ukraine, die täglichen Berichte und Stellungnahmen der Geheimdienste aus Großbritannien und den USA wert? Geheimdienste heißen so, weil sie geheim arbeiten. Was sie uns mitteilen, das ist das, was wir im Interesse der jeweiligen Regierung erfahren sollen.

Ein von Jo Angerer in Isjum in der Ukraine aufgenommenes Bild.

Also: Faktencheck. Für den STANDARD in Moskau macht das ein sehr erfahrener, mit unseren westlichen Journalismusstandards vertrauter Mitarbeiter. Manchmal sind es kleine Fehler, etwa falsche Schreibweisen von Namen. Seltener auch ungenaue Übersetzungen. Und ganz selten auch sachliche Fehler. Das wird korrigiert, ausgebügelt.

Eines ist aber sicher: Artikel des STANDARD-Korrespondenten aus Moskau unterliegen keinerlei Zensur. Sie kommen so in Wien an, wie sie gemeint und geschrieben waren. (Jo Angerer, 25.8.2023)

Wie berichtet man da möglichst objektiv?

Vier Hinweise von Klaus Stimeder, STANDARD-Reporter in der Ukraine

Desinformation in der Kriegsberichterstattung also, aus aktuellem, wenn auch kaum überraschendem Anlass. Wie verhält man sich als Reporter, dem in regelmäßigen Abständen die Drohnen und Raketen um die Ohren fliegen, ethisch richtig? Wie berichtet man möglichst objektiv und faktenorientiert über eine Invasion, die nach allen herkömmlichen Maßstäben der Definition eines genozidalen Angriffskriegs entspricht?

Ich habe keine endgültige Antwort auf diese Fragen; aber es gibt Strategien, nicht auf Desinformation in jedweder Form hereinzufallen, deren Anwendung mir bis heute erlauben, als Reporter bei Qualitätsmedien wie dem STANDARD arbeiten zu dürfen.

1. Das Wissen um die eigenen Grenzen. Im Lauf eines Krieges passiert jeden Tag etwas, das nach faktischer Überprüfung und Einordnung schreit. Den Überblick über das Gesamtgeschehen zu behalten ist für Berichterstattung vor Ort unmöglich. Nämliche soll Experten (nicht zu verwechseln mit vielen "österreichischen Experten") überlassen bleiben, die den nötigen geografischen wie politischen Abstand zu den Kriegsparteien und vor allem die nötige akademische oder sonstige fachliche Expertise mitbringen. Sprich eine, die über den deutschsprachigen Raum hinaus anerkannt ist. Als Konsequenz daraus sollte als erste Firewall gegen Desinformation möglichst kein Medium von einem Vorortreporter sogenannte "Big Picture"-Einordnungen verlangen. Ausnahmen bilden dabei öffentliche Debatten, eben weil die entsprechenden Quellennachweise alle öffentlich sind.

2. Neben dem Beherrschen des für Zuträger eines Qualitätsmediums üblichen Handwerkzeugs – Double-, Triple-, Quadruple-Check nicht nur von Fakten, die man als solche präsentiert, sondern auch der Quellen, aus denen sie sich speisen – die mit dem Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit einhergehende Demut, dass man am Ende trotzdem nicht alles hundertprozentig überprüfen kann, was einem manche Informanten erzählen. Ein Zusammenhang, in dem der Wert Erfahrung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Erfahrung nicht im Sinn von "Aber hallo! Ich renn hier schon seit Jahren rum!", sondern im Sinne einer so ernsthaften wie offenherzigen Auseinandersetzung mit den Lebenswelten im Kriegsgebiet. Lebenswelten, die nicht nur die eigene politische Haltung bestätigen, sondern so viele verschiedene wie möglich, von Luxusapartments der Geldelite über die mittelständischen Vororte bis zu den Trinklöchern der Berufsalkoholiker.

3. Alles, was im Zusammenhang mit dem Krieg in den sozialen Medien passiert, nur mit Handschuhen und Pinzette angreifen. Auch wenn die Mehrheit der Bilder und Töne, die in der Ukraine durch die Telegram- und Facebook-Kanäle schwappen, authentisch sind, immer die damit einhergehenden Threads genau verfolgen. Nur dann kann man sich so sicher wie möglich sein, dass man keinen Schwachsinn teilt oder gar in seine Berichte einwebt.

4. Last, but not least, auch wenn man sich an das alles hält: Fehler passieren mir, anders als ORF-Teilzeit-Ukraine-Korrespondenten, die über zwei Jahrzehnte keinen einzigen gemacht haben, trotzdem dauernd. Jeden einzelnen aufzuarbeiten, öffentlich zu machen und dazu zu stehen bildet entsprechend vielleicht die wichtigste Waffe im Kampf gegen Desinformation. (Klaus Stimeder, 25.8.2023)